ÜBER DAS ZEICHNEN VON HÄUSERN (2016)
"Ich glaube, daß mancher großer Redner, in dem Augenblick, da er den Mund aufmachte, noch nicht wußte, was er sagen würde. Aber die Überzeugung, daß er die ihm nötige Gedankenfülle, schon aus den Umständen, und der daraus resultierenden Erregung seines Gemüts schöpfen würde, machte ihn dreist genug, den Anfang, auf gutes Glück hin, zu setzten."
Heinrich von Kleist ( ca. 1805 ) "Über die allmähliche Verfertigung von Gedanken beim Reden".
Das Zeichnen war mir schon immer wichtig. Darüber hinaus spielte es beim Architektur-Studium eine nicht vernachlässigbare Rolle. Es gab Übungen im Zeichnen und Malen, Aktzeichnen, Architektonisches Zeichnen, bei dem etwa mit Reißfeder und Tusche Korinthische Kapitelle zu zeichnen und mit verdünnter Tusche plastisch anzulegen waren. In Ornamentaler Schrift galt es, in verschiedenen Schriftarten die Anfertigung schöner Schriftbilder zu üben. Kurzum, es stand das Erwerben handwerklicher Fähigkeiten im Mittelpunkt. All das zu einer Zeit, da Pläne noch von Hand, mit Tusche oder Bleistift, Reißschiene und Dreieck hergestellt wurden. Sauber zu zeichnen, mit freier Hand oder Lineal, war unumgänglich. Zu diesen Fertigkeiten gehörte es auch, Körper und Räume anschaulich in Perspektiven und Axonometrien darstellen zu können. Nicht nur, um Laien Entwurfsideen verständlich zu vermitteln sondern auch als Möglichkeit zur permanenten Kontrolle und Begleitung des Entwurfsprozesses.
Für viele, vor allem junge Architekten, hat inzwischen das Arbeiten am Computer das Zeichnen weitgehend, oft auch vollständig, verdrängt. Für diese sind von den Darstellungstechniken vergangener Jahrhunderte bloß gelegentlich noch das Arbeitsmodell zur Entwicklung und Überprüfung komplexer räumlicher Konstellationen, häufiger noch das Präsentationsmodell, als Mittler zwischen zweidimensionaler Darstellung und gebauter Realität, verblieben. Photorealistische, computergenerierte Visualisierungen haben perspektivische Zeichnungen fast vollständig verdrängt.
Zu den Eigentümlichkeiten des Arbeitens im Vor-Computer-Zeitalter gehörte die Verwendung von Aquafix. Einem durchscheinenden, sehr dünnen, in dicken Rollen gelieferten Zeichenpapier. Dieses wurde gerne, vor allem im Entwurfsprozess, verwendet: Erste, noch verschwommene Vorstellungen werden unsicher tastend notiert. Dann eine neue Papierschicht darüber gelegt, oft nur mit der freien Hand schnell von der Rolle abgerissen, Festzuhaltendes durchkopiert oder modifiziert, Neues hinzufügend, nicht Passendes flüchtig wegradiert, Schmutzspuren am Papier hinterlassend. Der verwendete weiche Bleistiftstrich wird vielleicht unbeabsichtigt verwischt und, eine neue Schicht darüber legend, iterativ sich voran - öfter auch rückwärts - tastend, eine Form gesucht und wieder verworfen. So, Papier übereinander schichtend, bilden sich aus den vielleicht unbeabsichtigt gegeneinander verschobenen Aquafixstücken, im undeutlichen Durchscheinen, aus der Überlagerung neue, ungewollte Strukturen, in welche die angeregte Vorstellungskraft zuvor nicht - oder noch nicht - Gedachtes hinein imaginiert. Oft taucht so, unverhofft, aus zufälligen Mustern Neues auf, welches vielleicht Unartikuliertes, nur verschwommen Gedachtes, plötzlich zur Gestalt verdichtet.
Unmöglich treffender lässt sich dieser geheimnisvolle, kreative Vorgang beschreiben, als dies Heinrich von Kleist in seinem kleinen Exkurs "Über das allmähliche Verfertigen von Gedanken beim Reden" in seltener Klarheit dargelegt hat. Er beschreibt, wie oft erst im Reden, unter dem Zwang sich verständlich zu machen, nebelhafte, bruchstückhafte Gedanken an Deutlichkeit gewinnen, ja sogar erst entstehen können. Genau so habe ich erfahren, wie das anfangs noch tastend beginnende Zeichnen, im Fortgang allmählich zur artikulierten Form finden kann.
Das Arbeiten mit Grundrissen und parallel dazu, mit kleinen, rasch hin gezeichneten Axonometrien und Perspektiven räumliche Wirkungen zu untersuchen, war für mich immer untrennbar miteinander verknüpft. Oft entstehen auch aus diesen Untersuchungen Ideen zur Änderung von Grundrissen, aber auch umgekehrt aus den Adaptionen neue, mich überraschende Gedanken zum Raum. Da war für mich meistens der Weg über die Anfertigung kleiner Arbeitsmodelle zu störend, weil den raschen Arbeitsfluss zu lange unterbrechend - ein viel zu langsames Medium. Auch war hilfreich das schriftliche Notieren von Überlegungen, von Satzfragmenten, das Oszillieren - oft auch ein Herumirren - zwischen räumlichen Skizzen, abstrakten Grundrissen und Funktionsdiagrammen. Ein Ineinander-Schieben-und-Arbeiten, gleichsam das In-Betrieb-Nehmen von unterschiedlichen Hirnregionen: Möglichkeiten, dem Festfahren in gedanklichen Sackgassen zu entgehen.
Jeder kreativ Wirkende weiß von den quälenden Phasen, in welchen scheinbar kein Vorankommen zu finden ist, vom erschöpfenden Ankämpfen gegen nicht greifbare Widerstände, vom Stocken des kreativen Flusses. Hilfreich fand ich hier oft die Möglichkeit, in die angenehm entlastende Monotonie auszuweichen, vielleicht nur, versinkend in handwerklichem Vergnügen, eine Fläche, gleichförmig verlaufend, zu schraffieren. Oder auch überflüssige Skizzen aus anderen Blickwinkeln zu zeichnen, um dann - wohl etwas abgelenkt und entspannt - zum Haltepunkt zurückzukehren, der nun unvermutet zur leicht überschreitbaren Schwelle geworden ist.
Hier ist auch der rechte Ort, vom inspirierenden Vergnügen an der Handarbeit zu sprechen. Dem ruhigen Geräusch der, für die dünnen Linien verdreht gehaltenen, Füllfeder auf dem Aquafix, oder im Wechsel dazu, das rasche, sanfte Gleiten der breiten Feder. Oder etwa die Freude am Hervortreten der gleichmäßigen Wabenstruktur beim "Schummern" des hellbraunen "Mi - Teintes - Papieres mit weißem Buntstift. Der zauberhafte, plastische Effekt, wenn eine lineare Zeichnung mit Bleistift auf durchscheinendem Papier, teilweise weiß unterlegt auf dunklem Grund, ungeahnt differenziert hervor tritt. Jeder kreative Prozess benötigt in der Regel auch die Wellentäler der Entspannung, Phasen scheinbareren Stillstandes, des Innehaltens, um wieder Schwung zu finden. Erfindungen, Neufindungen entstehen nicht nur im bewussten Handeln, schreibend, zeichnend, denkend. Jenseits unseres Bewusstseins, aber auch im Stillstand und Rasten - in der Pause - kann das Neue beginnen. Um ein Bild zu verwenden: Vielleicht ähnlich, wie unter dem Mikroskop Zellen beginnen sich zu teilen, auszustülpen, vom Nukleus ausgehend, zu immer komplexeren Strukturen sich mehren, um dann schließlich, mit freiem Auge sichtbar, zu erkennbarer Gestalt heranzuwachsen.
Und dann glaube ich, endlich einen schlüssigen Entwurf zu haben. In vielen kleinen dreidimensionalen Skizzen und Grundriss-Studien, in zahllosen Varianten ausgetestet, nach dutzenden Metern verbrauchtem, im Papierkorb gelandeten Aquafix, letztendlich mit Reißschiene und Dreieck in technischen Zeichnungen mit dem Bleistift fixiert. Das ist die Stunde in der ich daran gehe, den Entwurf aus den mir wichtig erscheinenden Blickpunkten zu umkreisen und mit genauer Konstruktion perspektivisch darzustellen.
Ich beginne mit einem einfachen räumlichen Gerüst, welches die groben Umrisse fixiert, ähnlich einem am Computer generierten Raumgitter. In dieses arbeite ich jene Bereiche "alla prima" hinein, die mir unverrückbar erscheinen oder die ich nicht anzweifeln möchte; untersuche dabei auch daneben mit kleinen Skizzen Bereiche, welche in der Grundriss-Darstellung nicht klärbar oder räumlich vieldeutig geblieben sind. So entdecke ich noch Undefiniertes und konkretisiere es. Dann arbeite ich in anderen Bereichen der Zeichnung weiter, bemerke, dass, was im Grundriss hier richtig zu sein schien, im räumlich gestalthaften Zusammenspiel mit dem anfangs in der Perspektive an anderer Stelle schon Festgehaltenen, im neuen Zusammenhang unstimmig wirkt. Ich radiere also am farbigen Papier mit hartem Bleistift Gezeichnetes wieder weg. Skizziere wieder, den Entwurf hier korrigierend, manchmal quälend endlos scheinend, nach einer stimmigen Korrektur, dem Richtigen suchend. So taste ich mich schrittweise voran, trage Fassaden auf und bemerke vielleicht, dass jenes, das in zweidimensionaler Ansicht attraktiv gewirkt hatte, in der Zusammenschau über die Gebäudeecke hinweg, doch nicht passt. Ich beginne daher dort den Grundriss so zu ändern, dass die Fassadenöffnungen entsprechend adaptiert werden können. Leider muss dadurch etwa ein Stiegenlauf verschoben werden, was im darüber liegendem Geschoß wieder zu neuen Problemen führt. So greifen die Arbeiten am perspektivischen Schaubild und der Entwurfsprozess ineinander, sich wechselseitig beeinflussend, iterativ sich - wenn es gelingt - einem stimmigen Ganzen annähernd.
Letztlich ist die über eine bloß skizzenhafte, räumliche Untersuchung hinausgehende exakte Darstellung in konstruierten Perspektiven für mich eine geeignete Methode, Entwürfe einer detailierten, vertieften Kontrolle zu unterziehen und dabei weiter zu entwickeln.
Die beschriebenen Eigentümlichkeiten des Arbeitens mit "Aquafix" beeinflussen, wie ich versucht habe darzustellen, nicht unwesentlich den Ablauf des Entwurfsprozesses. Das Undeutliche, Verschwommene, das Überlagern nur skizzenhaft festgehaltener Ideenfragmente bis hin zu jenen Momenten, in welchen klarere Bilder hervortreten, ist wohl dieser Arbeitsmethode geschuldet. Mit einiger Berechtigung kann argumentiert werden, dass die verwendeten Werkzeuge nicht nur die Art und Weise der Herstellung sondern auch das Ergebnis selbst mit gestalten.
Das computergestützte Entwerfen ist mittlerweile "State of the Art". Die aus der Automobil- und Flugzeugindustrie kommenden Software-Entwicklungen haben Möglichkeiten geschaffen, hochkomplexe Formen in zweidimensionalen Plänen darzustellen und damit auch baubar zu machen. Rund um den Globus entstehen Architekturen, welche die Gesetze der Schwerkraft zu überwinden scheinen und alles, was an kühnsten Form- und Raumphantasien im Vor-Computer-Zeitalter ausdenkbar war, weit übertreffen. Auf den Bildschirmen generieren die Algorithmen der Programme scheinbar selbsttätig verquetschte, verzerrte, amorphe, fließende, beliebig manipulierbare, erregend stimulierende Bilderfluten und verkünden den Tod des rechten Winkels und der ebenen Flächen. Waren die gebauten Artefakte bislang Setzungen des Menschen hinein in die umgebende Natur, bestenfalls in diese - mehr oder weniger gewollt - gut eingefügt, so gleichen diese nun mit ihren organoiden Formen selbst naturhaften Wesenheiten. Gebäude wachsen - riesenhaften exotischen Pflanzen gleich - aus der Landschaft oder werden zu Teilen derselben. Die Trennung zwischen Natur und Artefakt scheint aufgehoben, eine alte Sehnsucht nach Verschmelzung eingelöst.
Diese Werkzeuge beeinflussen zweifelsfrei das entwerfende Denken ihrer Nutzer und die Ergebnisse ihrer Arbeit: Neue Werkzeuge ermöglichen neue Formen. Zum einen. Andererseits ist es noch immer der Reiter, welcher in der Regel das Pferd reitet. Die Qualität entwerferischer Arbeit wird natürlich nach wie vor von den Fähigkeiten dessen bestimmt, der das Werkzeug nutzt. Sind diese gering, so mögen die von den Algorithmen erzeugten Formen auf den ersten oberflächigen Blick hin unsere überraschten Sinne reizen, mehr aber nicht. Erst in der Hand des Könners entfalten diese intelligenten Maschinen ihr die Kreativität beflügelndes Potential.
Man könnte versucht sein, angesichts dieser digitalen Revolution zu vermuten, dass auch der schöpferische Prozess selbst sich in seinem Ureigentlichen verändert habe, Mensch und Maschine symbiotisch verschmelzen und dieses hybride Wesen am Übergang in ein neues Zeitalter stehe, das wesentlich von Automatisierung und "denkenden" Maschinen bestimmt sein wird. Ausschließen möchte ich dies nicht. Aber das ist eine andere Geschichte, über die zu sprechen meine Kenntnisse nicht ausreichen. Jedenfalls wünsche ich jenen Architekten, für welche das "Zeichnen von Hand" bestenfalls ein unvollkommener Notbehelf ist, sie mögen jenes Vergnügen auf anderen Wegen finden, welches mir das Zeichnen von Häusern verschafft.