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Grundriss einer nützlichen Architekturkritik ( 1987)

Vorbemerkung


Den nachfolgenden Text habe ich als 42 Jahre junger, also sehr junger Architekt geschrieben. In vielen anderen Berufen mag man da gerade auf der Höhe seines Schaffens angelangt sein, bei manchen sogar bereits den Zenit überschritten haben. In meinem Beruf kommen jene, denen es beschieden ist erfolgreich zu sein, in der Regel erst in ihren 50ern dazu viel zu bauen. Ich hatte schon früher dieses Glück und war daher überaus selbstbewusst.


Die apodiktische Härte und Verbindlichkeit dieses Aufsatzes aus den 1980er-Jahren ist wohl meiner damaligen Jugend geschuldet. Das schriebe ich heute mit etwas geringerer Unduldsamkeit. Das Inhaltliche deckt sich allerdings weiterhin mit meiner heutigen Sicht.


Wozu Architekturkritik?


Der Kreis jener, welche mit Kunst konfrontiert werden, ist heute größer als in jeder anderen geschichtlichen Epoche. Da aber andererseits die Kenntnis der Mittel und Techniken so begrenzt geblieben ist wie zuvor, scheint mir notwendigerweise die Betonung der didaktischen, aufklärenden Funktion von Kunstkritik von großer Bedeutung zu sein. Kritiken werden nicht nur gelesen weil sie, analog zum Meinungsjournalismus, den Konsumenten vom Aufwand entlasten sich selbst ein Urteil bilden zu müssen oder Gelegenheit bieten, sich hinter der Einschätzung vermeintlicher Autoritäten verstecken zu können. Die gut gemachte Kritik teilt etwas mit von der Aufdecker-Lust, dem Genuss an der Enthüllung der Struktur. Sie vermittelt die Freude am Eindringen in die kompliziert verwobene Bedeutungs-Maschinerie des Kunstwerkes, die nur darauf wartet, in Gang gesetzt zu werden. Sie hat Aufforderungscharakter (...das alles steckt drinnen - finde es!),Demonstrationscharakter (so wird es gemacht!) und Erklärungscharakter (...dies soll es bedeuten). Sie kann nicht nur, sondern sollte unbedingt subjektiv sein und den Anschein abgeklärter Objektivität vermeiden, denn Urteile in der Kunst sind immer höchst subjektiv. Der Kritiker darf ruhig über das Objekt der Untersuchung, wenn es denn angebracht sein sollte, seinen Spott lustvoll ausgießen, so wie das ja zur Unterhaltung seines Leserpublikums auch zuweilen geschieht. Worauf er allerdings niemals verzichten darf, ist die Darlegung seiner Gründe.


Gängige Kunstkritik genügt jedoch selten diesem Anspruch, das Feld der Interpretation und des Verstehens durch kompetente Analyse auszuweiten. Kritik sollte in einem ersten Schritt versuchen unterschiedliche Bedeutungsebenen bloßzulegen und so die Struktur des Werkes deutlich zu machen. In der Folge kann gezeigt werden „wie es gemacht wird“, wie bestimmte Wirkungen erzeugt werden. Die für das Kunstwerk konstitutive Qualität der Mehrdeutigkeit, welche jene irisierende Komplexität herstellt, in der in jedem Teil die Wirkprinzipien sichtbar werden, die den gesamten Organismus gestalten, muss erkennbar gemacht werden.


Am Beispiel zweier Bauten unterschiedlicher Qualität, dem neuen Amtsgebäude in der Radetzkystraße von Architekt Czernin und dem Umbau der Sezession durch Architekt Krischanitz, sollen hier Ansätze zu einer Methode der ersten Annäherung an die Entschlüsselung von Werken der Kunst zur Diskussion gestellt werden. Dabei werden nur einige Aspekte der jeweiligen Bauten näher betrachtet, um nicht den Rahmen einer kurzen Betrachtung zu sprengen. So verschieden die Qualität der beiden Arbeiten ist, so treten doch beide mit Kunstanspruch auf. Scheitert der eine Versuch bereits im Ansatz daran, dass er durch unbeholfene Verwendung mit Bedeutung aufgeladener Formen öffentliche Bauherrlichkeit mit den Weihen der Kunst versehen möchte, so misslingt der zweite Versuch - auf zwar ungleich höherem intellektuellen und kulturellen Niveau - in Teilbereichen aus durchaus vergleichbaren Gründen.


Das Amtshaus in der Wiener Radetzkystraße


In einer ersten Annäherung versuche ich zu erkennen, wie hier mit jenen Elementen umgegangen wird, welche den Stadtraum definieren. Tor, Gasse, Straße und Platz, eng, weit, schnell und langsam sind jenes vertraute Vokabular, mit dem die Stadt sich uns als räumliche Erfahrung mitteilt. Der Platz etwa kann als Erschließungsfläche für angrenzende Gebäude, als Park zur Erholung oder als vor dem Haupteingang Distanz schaffender Raum oder dem Verkehr gewidmete Fläche verwendet werden. In jedem Fall aber sind ihm eine oder - sich überlagernd - mehrere dieser Funktionen zugeordnet.


An der Vorderen Zollamtstraße weichen an einer Stelle die hohen Gebäudefronten weit vom Gehsteig zurück. Der Eingang zum so geschaffenen, großen Platz wird von zwei mächtigen Kuben markiert. Ein sie verbindendes, erst aus nächster Nähe erkennbares - in Relation zu den voluminösen Würfeln allzu schmächtig-filigranes - an eine Gartenlaube erinnerndes Drahtgeflecht überspannt in flachem Bogen den Zwischenraum und versucht zu verdeutlichen, dass hier ein Tormotiv zitiert wird. Wir vermuten den großen Haupteingang in der Tiefe des sich öffnenden Raumes. Näher tretend wird aber deutlich, dass nicht ein Tor, sondern bloß ein Rahmen gebildet wird, um den Blick auf eine im Hintergrund erkennbare figürliche Plastik zu vignettieren. Dass angesichts der beachtlichen Höhe der Baumassen die schwebende Anton Hanak-Figur zu zwergenhafter Bedeutungslosigkeit reduziert wird, ist allerdings bedauerlich. Wer staunt noch angesichts dieser Inszenierung darüber, dass die beiden massive Kuben dem Vorbeifahrenden den Blick auf das zu präsentierende Kunstwerk verdecken. Allerdings verirren sich Fußgänger ohnedies selten in diesen unwirtlichen Straßenzug, der zu den meistbefahrenen dieser Stadt gehört - Wir treten näher heran, um der Sache ganz auf den Grund zu gehen. Ein kleiner, ovaler Teich ist der Plastik vorgelagert. Eine quergespannte Kette soll wohl verhindern, dass ein verirrter Passant auf den Gedanken kommen könnte, hier den Zugang zum Platz zu suchen. Bei genauerer Betrachtung erweisen sich die beiden Kuben als Abluft-Öffnungen einer unter dem Platz liegenden Tiefgarage.


Die Methode eine technische Notwendigkeit durch Transponierung in einen anderen Bedeutungszusammenhang zu verfremden und die daraus gewonnene Spannung ästhetisch wirksam werden zu lassen ist vertraut. Aus Abluft-Rohren einer Garage einen Rahmen für ein Kunstwerk zu basteln, erscheint allerdings nicht ganz angemessen zu sein.


Jahre später wurde Hanaks vor den hoch aufragenden Gebäudefronten geradezu schmächtig wirkende Figur durch einen weitaus mächtiger auftretenden, übergroßen Blumenstrauß aus Nirosta-Stahl ersetzt, was die pseudobarockeInszenierung auch nicht verbessern konnte. Das drahtige "Laubengang-Dächlein" musste gleichfalls dem kraftstrotzenden Gebilde weichen. Die Lüftungs-Kuben der Tiefgarage blieben natürlich.


Gehen wir wieder auf größere Distanz und versuchen einige Aufschlüsse über die Tektonik des Gebäudes zu erhalten. Hinweise des Architekten sind zwar für die Interpretation nicht wesentlich, können aber doch einiges über die Motivation und seine Gestaltungsabsichten verraten. In einer längeren Abhandlung hat der Planer erläutert, dass er angesichts der Nachbarschaft zur Ringstraße den Versuch unternommen hat das Vokabular dieses Stils wieder aufzunehmen, um der Bedeutung eines öffentlichen Baues gerecht zu werden. Soweit die nicht gerade bescheidene Zielsetzung.


Ringstraßenpalais stehen ganz in der Tradition des Stein- bzw. des Ziegelbaues. Schicht um Schicht arbeitet sich ein prototypisches Gebäude dieser Art über dem breiten, tragfähigen Fundament nach oben. Ein mächtiges Sockelgeschoss macht deutlich, dass große Lasten abzutragen sind und vermittelt, oft verstärkt durch die starke Plastizität des Rustika-Mauerwerks, den Eindruck selbstbewusster Distanzierung gegenüber der Außenwelt. Darauf aufbauend entwickelt sich die relativ freie, leichte Mittelzone mit der Beletage. Prächtig geschmückte, reiche Fassadengliederung und stärkere "Durchlöcherung" spiegeln in diesem Bereich die größere Freiheit. Auch kommt zum Ausdruck, dass geringere Lasten abzutragen sind. Darüber der weit auskragende, vielleicht durch einen niedrigen Geschoßteil mit kleinen Fenstern vorbereitete Abschluss durch das mächtige Hauptgesims. In diesem Dreier-Rhythmus baut sich das Gebäude, die Architekturgeschichte von 2000 Jahren reflektierend, auf einem kräftigen Sockel ruhend auf.


Natürlich ist das Ringstraßenpalais in gewisser Hinsicht eine sich imposant gebende Lüge, besteht doch das wehrhafte Rustika-Mauerwerk des Sockels nur aus über-dicken Putzschichten, setzt sich jeder Fassadenbauteil - von der prächtigen Balustrade bis zum Tympanon über dem Fenster - aus industriell hergestellten Fertigteilen zusammen. Natürlich atmen die meisten dieser Palais - wie schon Adolf Loos mit unnachahmlicher Arroganz ausgeführt hat - nicht den Geist der großen Metropole, sondern eher jenen von Cêrnovits oder Mährisch- Ostrau.  Wenn aber schon aus Loos'scher Sicht allzu viele dieser Ringstraßen-Gebäude provinziell sind, in welchen Winkel müsste dann unser Untersuchungsobjekt versetzt werden, um sein passendes kulturelles Ambiente zu finden, denn das was sich hier zeigt, genügt keinesfalls dem schriftlich niedergelegten Anspruch des Planers.


Ich nehme den Architekten beim Wort. Wie haltet er es mit der Tektonik, mit Proportionsfragen, mit der Ausdrucksform? Auch hier ist die Dreiteilung in der Vertikalen erkennbar; der Sockel als massive Stützenstellung, der seriell aufgebauten Mittelteil, der Gebäudeabschluss durch ein Hauptgesims. Der Umgang mit diesen die Fassade strukturierenden Elementen ist aber nicht jener, wie er bei den guten Ringstraßen-Palais zu finden ist. Das Basisgeschoß ist zu zwergenhaften Dimensionen geschrumpft, das Hauptgesims müsste wohl gut dreimal höher sein und wesentlich weiter auskragen, um überhaupt als Abschluss in dieser Höhe noch wirksam werden zu können. Der serielle Mittelteil ist eindeutig die Hauptsache. Hier herrscht ungeschminkt das Gesetz der Quantität, die industriell gefertigten Waben stapeln sich zu beachtlicher Höhe; durchaus im Sinn der Gründerzeit, aber nicht auf deren künstlerischem und kulturellem Niveau. Versöhnt dort die üppige Pracht der Kulissen-Architektur mit ihren Schwindeleien, so lässt uns hier der Entwerfer keine Chance.


Wozu die banalen "jugendstiligen" Ornamente, zehntausendfach auf den Fassadenplatten wiederholt, wozu die niedrigen, vereinzelten Pfeiler anstelle eines proportionsgerecht hohen Sockels oder das dünne  Hauptgesims - kaum sichtbar in der großen Höhe -  das ja doch nichts abschließt. Diese Fassade kann fünf oder zwanzig Stockwerke hoch sein, aber Gesims und Basis werden immer gleich hoch bleiben. Hier herrschen wahrlich keine klassischen Proportionsgesetze.


Zwischen den massiven Treppenhaus-Türmen, mit ihrem an den Orient gemahnenden Dekor, sind die Bürotrakte eingefügt. Die maximal möglichen Abstände der Treppenhäuser sind durch gesetzliche Fluchtwegbestimmungen reguliert. Die Proportion der Fassadenfläche der Bürotrakte ergibt sich aus der Ausnutzung dieser Maximalabstände und der zulässigen Gebäudehöhe; gestalterische Überlegungen, welche ein angemessenes Verhältnis angestrebt hätten, sind nicht erkennbar. Im "Ringstraßen-Stil" herrschten klassische Proportionsregeln, hier scheinen gesetzliche Vorschriften die Gestalt zu bestimmen. Nachdem hier keine Maßordnung sichtbar ist sollte nachgefragt werden, welche anderen Überlegungen den Architekten dazu bewogen haben könnten einen Gebäudesockel vorzusehen, der deutlich anders als die darüber aufgeschichteten Regelgeschoße gestaltet ist. Vielleicht werden im Erdgeschoss andere als Bürofunktionen untergebracht und dieser Sachverhalt, ganz im Sinne der Gestaltungsprinzipien der klassischen Moderne, zum Ausdruck gebracht? - Nein. Wird etwa das Erdgeschoß in Stützen aufgelöst, weil hier die Fassade zum Eingang hin geöffnet werden soll? - Aber der Eingang befindet sich gerade nicht an dieser Stelle; hier zischt nur eine der höchstbelasteten Straßen Wiens vorbei. Kein Fußgänger verirrt sich an diesen Ort.


An der gegenüberliegenden Gebäudefront ein gegensätzliches Bild: Ein massiver, geschlossener Sockel. Hier soll zwischen dem Amtsgebäude und der gegenüber liegenden Schule eine große, verkehrsberuhigte Zone realisiert werden. Ausgerechnet hier massive Betonherrlichkeit und Garageneinfahrten? Wo Fußgänger flanieren sollten finden wir massive, geschlossene Flächen vor, übrigens auch hier nicht den Eingang; dort aber wo Autos vorbeirasen, öffnet das Haus, auf Stützen gestellt, seine Büros nach außen: Büros einmal hinter Betonfassaden mit wenigen Löchern, darüber dann wieder hinter Glasbändern. Das Motiv des Gebäudesockels wird also bloß als formales Spielmaterial verwendet. „Offen oder geschlossen“ hängen von beliebigen Setzungen ab, eine Vernetzung mit anderen Bedeutungsebenen - zum Beispiel funktionellen Erfordernissen - ist nicht erkennbar.


Ich betrachte noch einmal das Motiv der Stütze im Kontext der Fassadengestaltung. Schwer und gedrungen proportioniert, vermittelt sie den Eindruck, dass die ganze Last zahlloser Geschosse auf ihr auflastet. Näher tretend glaubt man zu erkennen, was hier beabsichtigt wurde: filigrane Glaszacken begrenzen das Kapitell und trennen offensichtlich die zu tragende Last vom Auflager; diese Stütze hat also keine statische Funktion sondern dient wahrscheinlich nur der Gliederung der Fassade. Allerdings wird bei weiterer Annäherung, im tiefen Schatten nahezu verborgen, ein massives Auflager sichtbar. Die Stütze wurde also doch tragend ausgebildet. Soweit der Versuch, mich in die Gedankengänge des Entwerfers hineinzudenken. Zur Wirkung aber kommt dieses komplizierte  Spiel  mit Bedeutungen nicht, denn die Glaszacken verschwinden im Schatten der auskragenden Decke und der Luftspalt zwischen Kapitellund auflastendem Gebäude ist schon aus wenigen Metern Distanz nicht mehr erkennbar. Viel Lärm um nichts.


Die gleiche Bemühung um Ironie ist auch an der Ausbildung des Stützenkopfes demonstrierbar. Ausgerechnet jener Punkt des Tragelements, an dem die größte Lastkonzentration auftritt - dies ist einer der Gründe, weshalb bei der klassischen Stütze der oberste Punkt besonders betont wird - ist mit papierdünnem, leicht zerknittertem, glänzendem Blech verkleidet: Ein leichter Faustschlag genügt, um das hunderte Tonnen tragende Kapitell zu deformieren. Das wird aber nur ganz aus der Nähe erkennbar. Wozu also wieder dieses Bemühen um eine ironische Interpretation eines klassischen architektonischen Motives, wenn die Überlegungen im Grunde nicht sichtbar werden?


Einige Worte noch zur Fassade. Eigentlich wurde hier eine ganz normale Vorhangfassade verwendet. Hunderttausendfach in aller Welt an Bürohochhäusern zu finden, einmal als glatte elegante Haut, dann wieder stärker profiliert, fast immer aber ungeschminkt als serielles System verwendet, welches die zellenartige, additive Struktur der dahinter verborgenen Volumina ausdrückt. Der Architekt versucht mitzuteilen, dass die Fassade als dünne Haut vor die eigentliche Tragkonstruktion gehängt wurde. Er vermittelt diesen einfachen Gedanken durch mächtige Sechskantschraubenköpfe, welche fähig wären, die Last eines ganzen Hauses zu tragen. Sind so viele Schrauben zur Befestigung eines vielleicht 100 kg schweren Fassadenelementes notwendig? Es lohnt, diesen Punkt genauer zu überlegen. Offensichtlich scheint der Planer besorgt gewesen zu sein, die Schrauben könnten aus größerer Entfernung nicht als solche erkennbar sein; daher wurden sie überdimensioniert. So weit ist der Gedanke nachvollziehbar. Aber warum diese Unzahl von Befestigungsstellen? War man in Sorge, die Idee könnte übersehen werden, oder verlockte das hübsche Glitzern der silbrigen Knöpfe auf dunkelgrünem Grund? Tatsächlich wird durch die Vielzahl ornamental verwendeter Schrauben ihr konstruktiver Charakter verwischt. Als Detail am Rande sei vermerkt, dass die Schrauben nur nachträglich aufgeklebte Attrappen sind, die eigentliche Befestigung ist unsichtbar.


Mies van der Rohe hat bei einem seiner Gebäude die Methode verwendet, Unsichtbares, aber für das Verstehen der Baustruktur Wesentliches, durch Hinzufügen eines anderen Bauelementes sichtbar zu machen. So wird dort die hinter der Fassade positionierte - und daher unsichtbare - tragende, schlanke Stahlstütze in der vorgehängten Blechhaut der Vorhang-Fassade, wesentlich breiter und stark profiliert nachgebildet und damit die versteckte, aber für das Verstehen der tragenden Gebäudestruktur wesentliche Stütze strukturell erkennbar. Die Proportion dieser nicht tragenden "Scheinstütze" erscheint im Fassadenbild plausibel; die aufgrund ihrer hohen Belastbarkeit überaus schlanke, tatsächlich tragende Stahlstütze würden wir als falsch dimensioniert empfinden - dass die wegen der Brandschutzbestimmungen erforderliche Verkleidung des Stahlprofils dabei eine Rolle spielte, ist in unserem Zusammenhang nicht von Bedeutung. So wirkt bei Mies van der Rohes Bau auch das "Falsche" richtig, beim Amtsgebäude bleibt Falsches falsch.


Man könnte noch Vieles über das Äußere des Gebäudes sagen, zum Beispiel zu den eigenartigen, der Fensterscheibe vorgeblendeten, einen gewölbten Fenstersturz imitierenden Bögen, oder zum Kreuzmuster vor den geschlossenen Fensterbrüstungen - ein Motiv, welches Otto Wagner gerne als Füllung zwischen den Geländerstäben verwendete, hier aber bloß sinnentleerter Schmuck ist. Lassen wir ab von dieser Mischung aus Kubatur-Maximierung und Verwaltungsbau-Barock und wenden das kritische Instrumentarium auf ein anderes Bauwerk an, welches sich auf ungleich höherem intellektuellen und kulturellem Niveau bewegt, in Teilbereichen aber an zu hohen Ansprüchen scheitert.


Der Umbau der Wiener Sezession


Im vergangenen Jahr wurde der Umbau der Sezessionam Karlsplatz abgeschlossen. Ein auch als Architekturkritiker bekannten Planer zeichnet für die Lösung der heiklen Aufgabe verantwortlich, diesen bedeuteten Jugendstilbau zu adaptieren und teilweise mit neuen Einrichtungen auszustatten. Die Schwierigkeit des Unterfangens, mit gut bekannter und entsprechend mit Sentiment beladener, kulturhistorisch wichtiger Bausubstanz verändernd und ergänzend umzugehen, wird bewusst gewesen sein. Ich unterstelle, dass Planen in diesem Umfeld jeden engagierten Architekten angespornt, sein Bestes zu geben.


Man betritt das in brillantem Weiß strahlende Gehäuse und genießt den Glanz des verjüngten Hauses. Die umgebaute Ausstellungshalle präsentiert sich taghell unter dem großen Glasdach. Vier überschlanke Stahlstützen tragen die weit gespannte Decke. Ein ruhiger, neutraler Ausstellungsraum, der gestaltende Architekt bleibt im Hintergrund, alles ist Licht, nur die Farben der Bilder leuchten. Ich umkreise eine der vier Stützen, mit poliertem Metall verkleidet, ist sie im reflexions- und farblosen Raum unübersehbar. Auch hier wird übrigens die Verkleidung durch sichtbare Befestigung als solche erkennbar gemacht - allerdings mit ungleich diffizileren Mitteln. Aus dem Umstand, dass die Verkleidung der Stahlstütze eine Zutat des umbauenden Architekten ist, dürfen wir auf besondere Absichten schließen. Die im Raum ein wenig irritierende Fremdheit des Materials lenkt die Aufmerksamkeit auf das konstruktiv notwendige Tragelement. Der Blick gleitet zum Auflagerpunkt hoch und erkennt an der Ausformung des Details das Ziel des Hinweises: die Stütze durchtrennt gleichsam die Decke, statt sie zu unterstützen, hat offenbar keinerlei tragende Funktion. Sie wurde also nur zur Raumgliederung eingesetzt, gleichsam ein inneres Geviert der großen Halle absteckend. Das erklärt den entmaterialisierend wirkenden Einsatz der spiegelnden Oberfläche; und tatsächlich empfinden wir den Querschnitt als viel zu klein, um das große Dach wirklich tragen zu können. Der Architekt hat also durch Verkleidung und die besondere "unstatische" Ausformung des Deckenanschlusses deutlich gemacht, dass dieses Bauglied eine andere als eine tragende Funktion hat. Die Hinweise sind erkennbar, weisen aber in ihrer "Überinstrumentierung" diesem Bauglied möglicherweise eine allzu große Bedeutung im Kontext zu.

Verlassen wir die Ausstellungshalle. Der Kontrast könnte nicht größer sein. Die Ansicht ist erkennbar: Hier im Untergeschoß wurde Neues gestaltet, das mit der Olbricht'schen Oberwelt, seine Eigenständigkeit behauptend, nicht in unangemessene Konkurrenz treten möchte. Schummriges Licht empfängt die Gäste. Wir lassen uns an einem kleinen, einfachen Kaffeehaustischchen mit bequemen Sesseln nieder, der Blick schweift beruhigt über dunkle Wandflächen. Wir entdecken auch hier eine Stütze die nichts zu tragen hat, sondern offensichtlich nur zur Gliederung des Raumes verwendet wird. Damit das auch erkennbar wird, hört die Stütze kurz unter dem massiven Unterzug auf, den sie eigentlich tragen müsste. Wir erinnern uns an das Problem mit dem „Glaszackenkapitell“ und verstehen, dass wir uns hier mit einem ironischen Verweis, nicht aber mit einem konstruktiven Element zu beschäftigen haben.


Nicht jede Detailausbildung ist hier gelungen, was aber offensichtlich auf mangelhafte Baudurchführung, nicht aber achtlose Planung zurückzuführen ist. Im Großen und Ganzen aber eine wirklich gelungene Verwandlung des alten Kellergeschoßes in einen Ort der Entspannung. Jener Gast, der auch hier nicht auf geistige Anregung verzichten möchte, kann sich mit der Entdeckung witziger, anspielungsreicher Details unterhalten. So manche formale Spielerei wird vielleicht doch zu deutlich in Szene gesetzt, letztlich wird aber der angenehme Gesamteindruck dadurch nicht wirklich gestört.


Das ändert sich allerdings beim Besuch der Toilette. Hier entfernt sich der Wille zur Gestaltung zu weit von einer disziplinierten Einordnung in den funktionalen Kontext. Wir sehen einfache, angenehm weiße Fliesen an der Wand, verlegt auf eine höchst ungewöhnliche Weise. Fliesen sind Wandverkleidungen ohne jede tragende Aufgabe. Um dies zu verdeutlichen, werden sie normaler Weise so verlegt, dass die Fugen ein regelmäßiges Netz aus durchlaufenden, sich kreuzenden Linien erzeugen. Wir wissen, dass im Gegensatz dazu eine Mauer aus Ziegeln oder Steinen im sogenannten Verband verlegt werden muss. Das heißt, die horizontalen Fugen laufen durch, die vertikalen sind deutlich gegeneinander versetzt, sodass die Steine, sich gegeneinander verzahnend, fest zusammenhalten. Der Planer hat hier aber eine höchst ungewöhnliche Art der Verlegung gewählt: die horizontalen Fugen laufen durch, die vertikalen aber sind nur um einige Zentimeter zueinander versetzt. Zu wenig um eine Verbandswirkung und zu viel um das vertraute Bild vertikal durchlaufender Linien zu erzeugen. Höchst raffiniert, zugleich aber auch verwirrend. Man muss ständig hinschauen, scheint doch bei jeder Kopfbewegung das Muster in Bewegung zu geraten. Ein Phänomen, welches in den Bereich optischer Täuschungen gehört. Ist aber dieses, unsere ganze Aufmerksamkeit einfordernde Fugenbild, an diesem besonderen Ort wirklich angebracht? Ich meine, hier wäre weniger eindeutig mehr gewesen.


Alle diese kleinen, manchem vielleicht kleinlich erscheinenden Einwände schmälern jedoch nicht das große Verdienst des planenden Architekten, ein Baujuwel angemessen wiederhergestellt und mit notwendigem Neuen ergänzt zu haben, ohne das Alte in seiner Wirkung zu schädigen.


© 2019 ERIC STEINER: office@ericsteiner.at

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