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Rede zur Eröffnung des neuen Hauses für den Vorwärts-Verlag (1985)

Kunstgeschichte kann als ein Prozess interpretiert werden, der durch die Entwicklung neuer Ideen, Technologien und das Auftreten neuer gesellschaftlicher Gruppierungen bestimmt wird. Es lässt sich zum Beispiel darstellen, wie das auf­steigende Bürgertum, noch unsicher In seiner bestimmenden gesellschaftlichen Rolle, die abgelebten kulturellen Ausdrucksformen des Adels übernahm, um erst allmählich zur eigenen Sprache zu finden. Empire, Klassizismus, Gründerzeit und Jugendstil markieren die Stationen dieser Entwicklung.


In Wien finden wir aber nicht nur hervorragende architektonische Beispiele für die Baukultur des Bürgertums des 19. Jahrhunderts. Der Aufstieg der Arbeiterbewe­gung fand hier in den Gemeindebauten der zwanziger Jahre seinen kraftvollen, überzeugenden Ausdruck. In einer für Europa beispiellosen Aufbruchstimmung wurde das Gesicht der alten Metropole entscheidend geprägt: Gleichsam über Nacht entstanden die Bauten des "Roten Wiens", die heute nicht nur als hervorragende soziale, sondern auch große baukünstlerische Leistung eingeschätzt werden. Fernab der Überladenheit der Gründerzeit wurden überzeugend gegliederte Bauten mit einfachen Materialien und standartisierten Bauelementen geschaffen.


Das neue Vorwärts - Gebäude sucht ab­seits gängiger Modernismen an diese Tradition anzuschließen. Angesichts des geschichtlichen Bedeutung des Vorwärts kam für uns ein "gesichtsloser" Bau von vornherein nicht in Frage. Andererseits stellt jedoch gerade eln Druckereibetrieb im Hinblick auf die stürmische technische Entwicklung hohe Anforderungen an die Flexibilität. Aus diesen einander zumindest teilweise widersprechenden Aspek­ten - der gestaltbildenden Prägnanz der Form auf der einen, der Offenheit für Veränderungen auf der anderen Seite - ergab sich eine Trennung in einen der Straße zugewendeten ausdrucksstarken Baukörper und einen neutralen Container (Lager· und Produktions­halle) im hinteren Grundstücksbe­reich. Der massiv wirkende, plastisch durchformte ziegelrote Gebäudesockel lässt Assoziationen an das Stammhaus an der Rechten Wienzeile anklingen. Die runden Fenster an der Straßenfront, das Zwischengesims, die kleinteiligen Fenster im Obergeschoß stellen Bezüge zur Formensprache der Wiener Gemeindebauten der Zwischenkriegszeit her.


© 2019 ERIC STEINER: office@ericsteiner.at


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