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Über Geheimnisse und private Sphären (2017)

Verallgemeinerndes über Geheimnisse und Privatsphären


Eine der Möglichkeiten über Geheimnisse und Geheimhaltung nachdenken besteht darin, sich mit Erscheinungsformen der Beziehungen zwischen Menschen zu beschäftigen und der Geheimhaltung als einem kommunikativen Verfahren mit speziellen Codierungen, also einer Sprache (nach van Manen). Wir bewegen uns dann in den Sphären des Soziologischen und Psychologischen.

Wir können in Geheimnisse eingeweiht werden, sie entdecken und vor Anderen verbergen, sie erfinden. Sie beziehen sich in der Regel zielgerichtet auf konkrete Inhalte oder Bedeutungszusammenhänge. Im Unterschied dazu sind "Privatsphären" charakterisiert durch den Ausschluss und die Zurückweisung von Beziehungen und haben keine konkret eingegrenzten Inhalte (nach van Manen). Beide Begriffsfelder sind aber oft, sich manchmal gegenseitig bedingend, miteinander verknüpft und scheinen in allen Kulturen nachweisbar zu sein.



Über die Bedeutung von Geheimnissen und Privatsphären


Wir kennen das: Kinder ziehen sich unter den Küchentisch zurück und werfen bis zum Boden hängende  große Tücher darüber, um sich ein Höhle zu bauen. Sie halten sich die Hände vor die Augen und vermeinen, nicht mehr gesehen zu werden - verborgen zu sein. Das Verstecken-und-Suchen-Spielen ist für sie von großer Bedeutung. Hier wird erkennbar, worum es geht: Dass nicht nur das Sich-verbergen wichtig ist, verbunden mit dem Schauer vor der Gefahr des Entdeckt-Werdens, sondern auch das lustvolle Suchen und Enthüllen des Verborgenen. Das alles ist untrennbar im scheinbar kindlichen Spiel miteinander verbunden und wird im Rollentausch auch so erfahren.

Zwei Kinder ziehen sich hinter die Ecke zurück. Eines flüstert dem anderen ins Ohr: "ich weiß etwas, was Du nicht weißt!" Ein Geheimnis, das dem kleinen prahlenden Geheimnisträger in den Augen des davon Ausgeschlossenen wohl auch größere Bedeutung verleihen soll.


Andererseits entwickelt ein geteiltes Geheimnis auch große verbindende Kräfte. In Mark Twains "Huckleberry Finn" heißt es: "Wir schwören alle, dass wir zueinander halten und dass wir kein Geheimnis der Bande ausplaudern, und wenn wir in Stücke gehackt werden" Aber auch in engen Freundschaftsbünden wirken diese Kräfte. In Astrid Lindgrens "Bullerbü" versichern sich Lisa, Britta und Inga: "Das ist unser großes Geheimnis und wir wollen es nie, nie, niemals irgendjemand erzählen".

Kinder können in den ersten Lebensjahren ihnen kommende Gedanken nicht bei sich behalten. Sie sind sprachlich inkontinent (Piaget, 1959). Die Grenzen zwischen Innen und Außen sind noch nicht gezogen. Erst allmählich entwickelt sich ein nach außen abgeschlossener innerer Raum, welcher das Heranreifen ihrer Identität ermöglicht. Er ist für die Autonomieentwicklung des Kindes von zentraler Bedeutung (nach Spitznagel, 1998). Mit "schönen Geheimnissen" (Valentin, Watson, Flitner, 1998) beginnen sie diesen intimen, geschützten inneren Raum zu möblieren. Ein versteckter Tannenzapfen, eine rosa Haarschleife - im Kindergarten  gefunden, vielleicht gestohlen - das goldene Einwickelpapier eines Bonbons; was auch immer - es wird zum kostbaren Besitz, im Versteck verborgen. In diesen Geheimnissen grenzt sich das Kind gegen die Allgegenwart der Erwachsenenwelt ab (nach van Manen), es entwickelt so etwas wie eine Privatsphäre mit allmählich immer deutlicher werdenden Konturen. Später schließen die jungen Heranwachsenden mit ihren Geheimnissen die Erwachsenen aus von ihren inneren Räumen, ihrer privaten Sphäre. An den Türen ihrer Kinderzimmer hängen unsichtbare, manchmal auch sichtbare Verbotsschilder: "Eintritt verboten!". Sie erfahren die Verlockungen, manchmal aber auch Gefahren dieser Räume der Freiheit. In der Adoleszenz schließlich werden intimste Geheimnisse mit dem "besten Freund" geteilt und damit vorbehaltlose Vertrautheit erfahren. Der Austausch der Geheimnisse wird so "zum Zahlungsmittel für Intimität" (Meares, 1976).


Alle diese Bildungs- und Identitätsfindungsprozesse entwickeln sich im sozialen Raum, der durch Strukturen sowohl des Öffentlichen als auch des Privaten gekennzeichnet ist (Mitra Keller, 2006). 1906 schreibt der Soziologe Georg Simmel: "Das Geheimnis .... ist eine der größten Errungenschaften der Menschheit." Er entwickelt dann den Gedanken, dass "gegenüber dem kindlichen Zustand, in dem jede Vorstellung sofort ausgesprochen wird..." erst durch Geheimnisse jene "ungeheure"  Vielfalt des Lebens erreicht werde, welche unsere Zivilisation auszeichnet. Diese zweite verborgene Welt neben der offenbarten sei damit "ein Individualisierungselement ersten Ranges".


Ist das, was hier Simmel anno 1906 schrieb, nicht mehr vertretbare Sozialromantik? Jene Kräfte, welche die aktuellen terroristischen Bedrohungslagen verwenden, um die aktiv betriebene Erosion des Schutzes der Privatsphäre als leider unumgänglich zu argumentieren, scheinen jedenfalls so zu denken.



Der rechtliche Schutz der Privatsphäre


1948 wurde,  nach dem Untergang des 1000jährigen Reiches, die Deklaration der allgemeinen Menschenrechte verabschiedet, in welcher im Artikel 12 der Schutz der Privatsphäre verankert wurde. Bereits 2 Jahre später wird in der Europäischen Menschenrechtsdeklaration ein detailierter Gesetzesvorbehalt eingebaut, welcher diese persönlichen Freiheitsrechte, in Abwägung zu den die Interessen des Staates wahrnehmenden Behörden, deutlich einschränkt. Diese Bestimmungen wurden auch in unsere Rechtsordnung übernommen.


7 Jahrzehnte später erleben wir, angetrieben von den Innovationen der Informationstechnologien und dem 2001 ausgerufenen  sogenannten "Krieg gegen der Terror", die mit beängstigender Geschwindigkeit fortschreitende Erosion dieses Schutzes durch unsere verbrieften Grundrechte.


Nicht wenige meinen, dass angesichts der technischen Möglichkeiten der Ausspähung der in den westlichen liberalen Demokratien hochgeschätzte Begriff der "Privatsphäre" obsolet geworden sei. Und so manche Stimme ist zu hören, welche davon spricht, nichts dagegen zu haben, man habe ja sich nichts zu Schulden kommen lassen und habe daher auch nichts zu verbergen. Sollen wir also den "Schutz unserer Privatsphäre" auf dem Friedhof überholter Rechtsnormen entsorgen?



Leben mit der überwachten Privatsphäre


Längst haben wir uns an zahllose Kontrollpraktiken gewöhnt. Sie machen ja den Alltag - sofern wir das überhaupt bemerken - in vielerlei Hinsicht auch oft bequemer. Die neuen "smarten Stromzähler" werden in den Wohnungen zuverlässig melden, wann und in welchen Regionen Verbrauchsspitzen auftreten. So kann rechtzeitig die erforderliche Spitzenabdeckung aus dem internationalen Stromverbund ins örtliche Netz eingespeist werden. Die früher häufigen Stromausfälle werden der Vergangenheit angehören. Mein TV-Streaming-Dienst schlägt mir unaufgefordert eine neue Krimi-Serie vor mit meinen Lieblingsschauspielern; ich wäre von selbst nie darauf gekommen, dass es diese neue TV-Serie gibt. Und sicher hätte ich ganz vergessen, dieses spezielle Kabel auch mit-zu-kaufen, um den gerade im Internet bestellten Sat-Receiver in mein Heim-Netzwerk integrieren zu können; Amazon hat unaufgefordert von sich aus vorgeschlagen: "Das könnte Sie auch interessieren" - nämlich genau dieses unbedingt notwendige Kabel.


Eltern schenken ihren Kindern gerne ein Handy und nehmen Konflikte wegen zu hoher Telefonkosten in Kauf. So können sie jederzeit wissen, wo die Kleinen - auch die Größeren - gerade sind und wann sie wieder zu Hause sein werden. Und wenn es ein teures iPhone ist, dessen Ortungsdienst aktiviert ist, hat das kontrollierte Kind keine Chance zum kleinen Schwindel. Man sieht auf dem eingeblendeten Stadtplan, dass es bei jenem Freund in der Wohnung ist, den zu treffen ich ihm verboten habe. Zwar könnte es das iPhone ausschalten, das aber machte sie verdächtig.


Auch wir können natürlich unsere E-Mails und Telefonate - vorläufig noch! - mit geeigneter Software verschlüsseln. Aber erregen wir nicht damit Verdacht? Warum sollten wir das machen wollen; wir haben doch nichts zu verbergen?

"Die Gedanken sind frei, wer kann sie erraten, sie fliegen vorbei wie nächtliche Schatten. Kein Mensch kann sie wissen, kein Jäger erschießen" heißt es in einem Volkslied aus dem 18. Jahrhundert. Damals, zur Zeit der Französischen Revolution, war es leicht so zu texten. Mit Telefon, Internet, E-Mails und den heutigen technischen Überwachungsmöglichkeiten, kann dieser "innere Raum" der "privaten Sphäre" nicht mehr folgenlos geschützt werden. My home is my castl kann man wohl nicht mehr so sagen. Man könnte das in Kauf nehmen, leben wir doch in einer liberalen Demokratie. Aber wie würden diese vernetzten Informationen in einem autoritären Staat verwendet werden?



Nach "Nine Eleven"


Der Anschlag auf das World Trade Center war nicht nur in Hinblick auf die Opferzahl verheerend. Er setzte, ganz im Sinne der strategischen Interessen der geistigen Väter des "Modernen Terrorismus" eine Eskalationsspirale in Gang, in deren Zentrum die allumfassende Überwachung und der Abbau wesentlicher Fundamente unseres liberalen Rechtsstaates stehen.


2006 setzte der amerikanische Präsident, G. W. Bush, die "Magna Charta" von 1215 für sogenannte feindliche Kombattanten außer Kraft. Nicht mehr unabhängige Richter sondern die Exekutive durfte von nun an darüber entscheiden, ob jemand als "feindlicher Kämpfer" zu betrachten sei. Man erklärte die Verfolgung verbrecherischer Terroristen zum "Krieg gegen den Terror" und setzte damit, gleichsam mit einem Federstrich, die in jahrhundertelangen Kämpfen unter großen Opfern erstrittenen Rechte - dem Fundament unserer freiheitlichen Gesellschaftsordnung -  außer Kraft. Wir alle haben erlebt, wie innerhalb eines Jahrzehnts, ohne nennenswerten Widerstand, für unantastbar gehaltene Elemente unserer Rechtsordnung ins Wanken gerieten und teilweise beseitigt wurden. Im Krieg gibt es eben keine "Unschuldsvermutung" und der Verdächtige wird schnell zum "Gefährder". Und diesem werden mit Notverordnungen und Sondergesetzten im Handstreich seine Bürgerrechte entzogen. Das Alles haben wir auch schon - wenn auch national begrenzt - im Deutschland des Terrors der RAF erlebt. Die Lehren daraus wurden gezogen, aber schnell auch wieder vergessen.


Gab es nicht einmal ein absolut geltendes Folterverbot? In Europa gebe es kein Guantanomo mögen viele meinen. Diese seien zum Beispiel an die viel zu wenig heftigen Reaktionen auf die gelehrten Versuche des renommierten deutschen Staatsrechtlers Matthias Herdegen erinnert, dieses absolut geltende Verbot kasuistisch zu relativieren; oder etwa an die von Österreich stillschweigend tolerierten Flüge amerikanischer Militärmaschinen zu ihren geheimen Foltergefängnissen in Osteuropa.


Der sich vollziehende Umbau des Rechtsstaates umgibt sich mit einer Aura des Unvermeidlichen. Die Vermutung liegt nahe, dass es mit der Verinnerlichung der freiheitlichen Ideale nicht so weit her ist. Die politische Aufklärung nach einem Jahrhundert der Totalitarismen scheint wohl nicht nachhaltig gewesen zu sein. "Kann man ein Wertesystem verteidigen, indem man es abschafft" fragt die deutsche Autorin Julia Zeh - Polemisch?



In welcher Weise bedroht Terrorismus liberale Demokratien?


Was hat es nun eigentlich mit diesem Terror auf sich, gegen den seit 2001 angeblich ein "Krieg" geführt werden muss. Was ist das Bedrohlich an ihm, dass er die allumfassende Überwachung und Einschränkung unserer Freiheitsrechte rechtfertigen kann? Dazu ein wenig Statistik.


Nach dem "Global Terrorism Index" (Institute for Economics and Peace,  University of Maryland, 2014) ereigneten sich seit 2000 weniger als 3% aller terrorbedingten Todesfälle in westlichen Ländern. Das Risiko einem herkömmlichen Tötungsdelikt zum Opfer zu fallen ist 13 mal höher. In den letzten 35 Jahren erreichte der Terror in Europa seinen Höhepunkt zwischen 1972 bis 1988 mit durchschnittlich 150 Toten pro Jahr (Jörg Trauboth). Wir erinnern uns an diese Zeit,  welche durch die Anschläge der Baskischen Separatisten, der RAF, der Roten Brigaden und anderer Gruppierungen die europäische Terrorszene dominiert wurde. Aktuell erlebt Europa beginnend mit den Anschlägen in Nizza im Juni 2016 bis zum Juli 2017 den vorläufigen Höhepunkt einer überwiegend islamistisch motivierten neuen Terrorwelle mit 115 Toten innerhalb eines vollen Jahres. (Der Standart, 18.08.2017). In der EU sterben im selben Zeitraum fast 26.000 Menschen im Straßenverkehr und 135.000 erleiden dabei schwere Verletzungen ("Die Welt",  nach "Zeit Online").


Es soll hier nicht die Gefährdung unserer westlichen liberalen Demokratien durch Terroranschläge bagatellisiert werden. Es geht darum, diese Bedrohungen in ihren realen Proportionen zu sehen. Befürworter rigider, weitgehender Überwachungsszenarien argumentieren, dass gerade dieses eng gewebte Überwachungsnetz prohibitiv wirke, beziehungsweise auch viele geplante Anschläge bereits im Vorfeld aufgedeckt und damit verhindert werden. Interessanterweise findet sich auch bei intensiver Recherche nur spärliches Zahlenmaterial darüber, wie viele geplante Anschläge wann und wo aufgedeckt wurden. Eigenartig, da doch solche Zahlen Überwachungsgegner zum Verstummen bringen müssten. Das deutsche Bundeskriminalamt BKA veröffentlichte 2017 eine Liste mit ganzen 11 vereitelten Anschlägen in den Jahren 2000 bis 2016. Weltweit wurden im selben Zeitraum (2001 bis 2015) 85.196 ausgeführte Anschläge registriert.


Natürlich sollen Terroranschläge verhindert werden. Genauso, wie wir Massenkarambolagen auf Autobahnen, Zugzusammenstöße, Reaktorunfälle, AIDS, tödliche Grippewellen, Flugzeugabstürze, Explosionen in Chemiefabriken, kurzum Katastrophen jeglicher Art verhindern wollen, die jeden von uns treffen können. Könnte es sein, dass nicht der Terrorismus, sondern der Versuch seiner Instrumentalisierung die eigentliche Bedrohung ist, und im Windschatten dieses sogenannten Krieges autoritäre Strukturen eingeführt werden? Ist das Fest der Freiheit (J. Zeh et al. 2009) vorbei?


Als im Mai 1933 das "Ermächtigungsgesetz" im deutschen Reichstag beschlossen wurde, war eine unsichtbare Grenze überschritten worden. Die Generation der 68iger warf ihren Eltern vor, sich nicht dagegen gewehrt zu haben. Aber: Der Frosch, ins heiße Wasser geworfen, springt sofort heraus. Ins kalte Wasser gesetzt, das nur allmählich erwärmt wird, bleibt er ruhig sitzen bis er stirbt (J. Zeh et al. 2009).  Es gibt keine uns warnende Stopschilder mit der Aufschrift: "Sie verlassen soeben den demokratischen Sektor!"


Das angstbestimmte "Mangelwesen Mensch" (S. Freud) neigt allzu leicht dazu, seine mühsam erkämpften Freiheiten gegen trügerische Sicherheit einzutauschen und erliegt damit einem gefährlichen Trugschluss. Einer der Väter der amerikanischen Verfassung - Benjamin Franklin - hat dieses Dilemma vor drei Jahrhunderten überaus treffend so formuliert: "Wer die Freiheit aufgibt, um Sicherheit zu gewinnen, der wird am Ende beides verlieren".

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