top of page

Corona-Text 10: Impfpflicht für alle? (1. Dezember 2021)

.Unsere Regierung hat angesichts stagnierender Impfbereitschaft und explodierender Infektionszahlen beschlossen, eine allgemeine Impfpflicht einzuführen. Anders könne man nicht die von Experten empfohlene Impfquote erreichen, welche notwendig sei, um die Vollbelegung unserer Intensivstationen mit Corona-Erkrankten zu vermeiden. Täte man das nicht, müsste dort schon bald triagiert werden. Ärzte wären dazu gezwungen zu entscheiden, ob etwa das krebskranke Kind operiert oder die dringende Herztransplantation durchgeführt werden solle; unser Gesundheitssystem, das jedem Erkrankten die bestmögliche Behandlung sichere, würde kollabieren. Die Entscheidung sei allen schwer gefallen, sei aber alternativlos.


Alternativlos. Das haben wir in dieser Krise bereits oft zu hören bekommen. Wer es wagte die jeweils gerade aktuelle Behauptung es gäbe keinen anderen Weg in Zweifel zu ziehen, musste damit rechnen, als Corona-Leugner oder bestenfalls als Verharmloser punziert zu werden. Man wäre ein Faktenleugner, mit dessen Argumenten man sich nicht auseinandersetzen müsse.


Solche Diskursverweigerung machte misstrauisch, denn allzu oft steckte dahinter Argumentationsschwäche und nur bedingt faktenbasierte Entscheidungen, ein erhofft publikumswirksamer Aktivismus, der über eigene Versäumnisse und Fehleinschätzungen hinwegtäuschen und sowohl Handlungskompetenz als auch Führungsstärke plakativ demonstrieren sollte.


Was erhofft man sich von der, wie man hört, möglicherweise zeitlich begrenzten Einführung einer strafsanktionierten Covid19-Impfpflicht? Man erklärt uns, das Ziel der Maßnahme sei das Erreichen einer möglichst vollständigen Durchimpfung der Bevölkerung, um damit eine Art Herdenimmunität zu erreichen, welche sicherstellen solle, dass unsere Intensivstationen nicht mit Corona-Patienten überbelegt werden und so ausreichende Kapazitäten für den Normalbetrieb übrig bleiben.


Das klingt aufs erste plausibel und nachvollziehbar. Wurde aber dabei daran gedacht, dass es ja nicht beim "dritten Stich" bleiben wird, dass wir mit dem Virus weiterleben werden müssen, ähnlich wie bei der Grippe, mit ihren alljährlich in unterschiedlicher Heftigkeit wiederkehrenden Epidemien, deren Opferzahlen beträchtlich hoch sind? Wird es dann alle Jahre wieder Zwangsmaßnahmen gegen die unbelehrbaren Impfverweigerer geben? Ich zweifle daran und gehe davon aus, dass dieses Gesetz zu totem, nicht angewendetem Recht, bei sinkender Impfbereitschaft, werden wird, was bestimmt nicht in der Absicht jener liegen kann, die jetzt die allgemeine Corona-Impfpflicht einführen wollen.


Wird man junge, gesunde Impfskeptiker überzeugen können?


Es wird jenen Jungen und Gesunden, die sich bis jetzt noch nicht impfen ließen, kaum die unabdingbare Notwendigkeit ihrer Impfung vermittelbar sein angesichts der relativ geringen Gefahr selbst schwer zu erkranken oder gar auf der Intensivstation zu landen. Natürlich liegen trotzdem viel zu viele unter 50-Jährige in den Spitälern. So wurden z.B. in der Schweiz in den ersten beiden Novemberwochen diese Jahres pro 100.000  dieser Alterskohorte 25 wegen Covid-19 hospitalisiert, was einem Anteil von 0,025% entspricht. Ein junger Impfskeptiker kann daraus mit einer gewissen Berechtigung sein geringes Erkrankungsrisiko ableiten, denn es träfe dann ja nur einen von 4000 dieser Altersgruppe. Hochgerechnet auf alle 50-Jährigen ergibt sich natürlich trotzdem eine hohe Zahl, die in den Spitälern landen werden.


Man wird viele der Jungen vor allem auch deshalb nicht überzeugen können, weil die Impfung bei manchen von ihnen auch inzwischen gut bekannte Nebenwirkungen haben kann. Ganz und gar faktenbefreit wäre aber die jetzt immer häufiger zu hörende Forderung, auch alle Kinder zu impfen, angesichts des vernachlässigbaren Risikos ihrer schweren Erkrankung; sie werden mit Sicherheit nicht die Intensivstationen überfüllen.


Da man inzwischen weiß, dass auch Geimpfte in vergleichbarem Ausmaß wie Ungeimpfte infektiös und daher ansteckend sein können - allerdings wahrscheinlich weniger lang wie Ungeimpfte -  ist auch das bisher häufig verwendete Argument zu relativieren, man schütze mit der eigenen Impfung die Alten und Vulnerablen vor Ansteckung. Zwar wird man mit Strafandrohung viele Junge und Eltern dazu bringen, sich bzw. auch ihre Kinder impfen zu lassen, der Widerstand dagegen wird aber unterschwellig weiter bestehen und mit dem fließenden Übergang der Pan- in eine Epidemie möglicherweise auch wachsen, sodass in den Folgejahren, beim zu erwartenden saisonalen Wiederaufflackern der Infektionszahlen auf niedrigerem Niveau, die Bereitschaft zur Erneuerung des Impfschutzes wieder sinken könnte. Will man dann wieder zu Sanktionen greifen?


Die Einführung einer stufenweise nachjustierbaren Impfpflicht, vorerst beschränkt auf die vulnerablen Gruppen


Ganz anders sieht die Möglichkeit einer gut zahlenbasiert geführten Argumentation für die Einführung einer Impfpflicht z.B. für die Alterskohorte der über 50-Jährigen aus. Da wurden in der Schweiz in den ersten beiden Novemberwochen dieses Jahres pro 100.000 dieser Alterskohorte 309 wegen Covid-19 hospitalisiert, was einem Anteil von 0,309% entspricht. Ein älterer Impfskeptiker müsste sich dann damit auseinandersetzen, dass es einen von 320 seiner Altersgruppe träfe. Da würde er vielleicht verstehen können, dass es wohl klüger sei, sich impfen zu lassen.


Was aber durchaus Sinn macht, wäre die Einführung einer sofortigen Impfpflicht für die relevante Zahl der wirklich Gefährdeten in unserer Bevölkerung. Ihnen gegenüber kann faktenbasiert argumentiert werden, mit gut abgesichertem statistischen Material, welches den Schutz durch eine Impfung davor, auf einer Intensivstation oder auch nur auf Normalstationen im Krankenhaus zu landen, eindrucksvoll dokumentiert. So spricht vieles dafür, eine auf diese Personengruppe fokussierte Kampagne zu starten, begleitet von der Einführung einer auf sie beschränkten Corona-Impfpflicht. Die Maßnahme ist sinnvoll und faktenbasiert, der Widerstand dagegen überschaubar. Wenn sich abzeichnen sollte, dass damit eine Überlastung der Spitäler nicht verhindert werden kann, sollte es möglich sein, schrittweise den Kreis der von der Impfpflicht Erfassten auf dem Verordnungsweg auszuweiten, begleitet von entsprechender Information der Bevölkerung. Das wäre dann gut erklärbar. Auf diese Weise würde man wahrscheinlich am Ende beinahe bei einer allgemeinen Impfpflicht landen, allerdings ohne allzu großen Widerstand in der Bevölkerung provoziert zu haben.


Die unvorbereitete Einführung einer allgemeinen Impfpflicht ist demokratiepolitisch unüberlegt und in ihrer Wirkung fragwürdig.


Letztlich liefert man mit der Ausweitung einer Impfpflicht auf alle - und damit auch auf die, welche diesen Schutz kaum brauchen - jenen Munition, welche die Betroffenen für ihre eigene politische Agenda missbrauchen. Die Zwangsmaßnahme einer allgemeinen Impfpflicht kann damit zum Treiber wachsender Politik- und Staatsverdrossenheit werden und spielt damit den Feinden der Demokratie in die Hände.


Warum die Regierung sich für den radikalen Schritt einer allgemeinen und möglicherweise sogar auf Kinder ausgeweiteten Impfpflicht entschieden hat, ist bei einer umfassenden Sicht, die auch langfristig wirksam werdende Aspekte einbezieht, mit rationalen Argumenten schwer verständlich zu machen. Allerdings fällt auf, dass die dafür verantwortlichen Politiker sich von Anfang der Pandemie an in ihrer Kommunikation und Umsetzung für grobschlächtige Maßnahmen entschieden haben, denen eine eindimensionale Sichtweise auf das komplexe pandemische Geschehen zugrunde lag. Experten, welche erst langfristig sichtbar werdende negative Auswirkungen von Maßnahmen im Blick hatten, z.B. auf Bildungskarrieren und in der Folge auf die spätere Einkommensentwicklung, und in letzter Konsequenz auf die Lebenserwartung, waren als Berater nicht gefragt. Hinzugezogen wurde vor allem jene, welche durch Fokussierung auf ihr eigenes, enges Fachgebiet der eindimensionalen, kurzfristig orientierten Betrachtungsweise der Entscheidungsträger entgegenkamen.


Paradigmatisch für den Handlungsstil der Regierungsverantwortlichen, welcher das unmittelbar und plakativ sichtbar Werdende dem langfristig Wirksamen vorzieht, steht ein Zeitungskommentar, der von einem Regierungsmitglied verfasst wurde, um die Strategie im Kampf gegen Corona zu erklären. Dort wird zustimmend ein Experte zitiert, der den "Hammer und Tanz" als angemessenen Umgang mit der Pandemie empfiehlt. In den aktiven Phasen der Virusausbreitung müsse man mit dem "Hammer" zuschlagen, um die Reproduktionszahlen entscheidend zu senken. Darauf könne dann eine längere Phase relativer Normalität folgen, belohnt durch den "Tanz". Der peinlichen Primitivität des sprachlichen Ausdrucks entspricht die Simplizität dieser Sichtweise. Dem entsprechend folgten mit Regelmäßigkeit panisch verordneten Lockdown-Phasen Monate planloser Sorglosigkeit, in denen gar vom "Licht am Ende des Tunnels" phantasiert wurde, oder vorschnell das "Ende der Pandemie (für die Geimpften)" verkündet wurde. Die Regierungsmannschaft scheint in einem auf einer Hochschaubahn auf- und absausenden Zug zu sitzen, auf Gleisen gebannt, die den wellenförmigen Kurven an- und abschwellender Infektionszahlen folgen. Man muss darauf hoffen, dass sich das ändert.


Wien, am 1. Dezember 2021


Nachwort vom 4. Dezember 2021


Einen Tag nachdem ich diesen Text verfasst habe, war dieser bereits überholt. Vor zwei Monaten hat Bundeskanzler Kurz seinen Rücktritt erklärt. Die ihn seit Monaten mit unhaltbaren strafrechtlichen Anschuldigende verfolgende Justiz erschwere ihm die Regierungsarbeit in einem solchen Ausmaß, dass er es für unumgänglich halte, vorläufig "zur Seite zu treten". Mit dieser Erklärung überraschte er nicht nur alle politischen Kommentatoren und Beobachter. Da Herr Kurz im Vorjahr die Pandemiebekämpfung - und damit ausdrücklich auch die Impfkampagne - "zur Chefsache" erklärt hatte, hoffe ich, dass es jetzt möglich wird, zu den Fakten zurückzukehren. Jetzt könnte man, im Gefolge einer zu erwartenden Regierungsumbildung, ohne Gesichtsverlust, auf die Verordnung einer allgemeinen Covid19-Impfpflicht verzichten zugunsten einer vorerst auf die vulnerablen Bevölkerungsgruppe beschränkten.


Zweites Nachwort vom 13. Dezember 2021


Inzwischen droht eine 5. Welle im Jänner oder Februar des nächsten Jahres, angetrieben von der neu entdeckten Omikron-Variante des Virus. Angesichts der Aussicht darauf, dass das pandemische Geschehen uns noch länger begleiten wird als von vielen erhofft, fühle ich mich darin bestätigt, für eine gut überlegte Impfregelung zu plädieren, welche auf ihre langfristige Wirksamkeit hin gedacht wird.


Drittes Nachwort vom 17. Dezember 2021


Nach wie vor liegt der interessierten Öffentlichkeit kein einigermaßen aktuelles statistisches Material über die wegen Covid-19 Hospitalisierten in Österreichs Spitälern vor. Experten der Regierung (wie etwa der Simulationsforscher Professor Popper) klagen darüber, dass sie keine Unterlagen haben, aus denen neben der bloßen Anzahl etwa auch Impfstatus, Alterszusammensetzung, Vulnerabilität aufgrund wesentlicher Vorerkrankungen,  sozialer Status, usw. der Hospitalisierten hervorgehe. Korrekte Prognosemodelle seien damit kaum erstellbar. Die Zahlen gebe es, sie seien aber nicht miteinander verknüpft, was allerdings - "quasi auf Knopfdruck" - leicht möglich wäre. Möglicherweise wird das aus Datenschutzgründen nicht gemacht.


In der Demokratie, vor allem in Zeiten der Pandemie, haben die Medien eine zentrale Rolle bei der Aufklärung und Information der Bevölkerung. Engagierte Journalisten versuchen diese Aufgabe gewissenhaft zu erfüllen. Wie schwer es ihnen allerdings gemacht wird, dem faktenbasiert nachzukommen, ist am Beispiel des in der Tageszeitung "Die Presse" regelmäßig zu "Corona-Fragen" schreibenden Köksal Baltaci demonstrierbar. Vor einigen Tagen schrieb er darüber, dass rund 85% der auf den Intensivstationen liegenden Covid-19-Patienten ungeimpft und jünger als 60 Jahre alt wären. Diese Zahlen hatte er durch einen Rundfrage in österreichischen Intensivstationen selbst ermitteln müssen, was deutlich macht, wie unzureichend die Datenlage in Österreich ist.


Dem gegenüber steht eine Recherche des TV-Privatsenders Puls 4, dass derzeit (in dieser Woche) nur rund 18% der auf den Wiener Intensivstationen liegenden Covid-19-Kranken unter 60 und ungeimpft seien, dafür aber 74% über 60 und ungeimpft. Das deckt sich auch weitgehend mit den Zahlen, welche Redakteure des ORF recherchiert und am 6. Dezember veröffentlicht haben. Laut RKI, das seit April 2021 die Altersstruktur und Belegzahlen auf den deutschen Normal- und Intensivstationen erhebt, lagen de facto nie  mehr unter 60-Jährige als über 60-Jährige auf den Intensivstationen. Derzeit beträgt der Anteil der 30-60-Jährigen 35%.


Baltacis Recherchezahlen wären ein schlagendes Argument dafür, eine Impfpflicht auch für die Jungen zu fordern. Andere Quellen, von denen das deutsche Robert-Koch-Institut (RKI) sicher die zuverlässigste ist, widersprechen diametral Baltacis Zahlen und unterstützen eher die Rechtfertigung einer auf die Alten beschränkte Verpflichtung. Welche Zahlen sind die richtigen? Der Gesetzgeber wird es angesichts dieser Verwirrung schwer haben, die Verordnung der Impfpflicht, ob nun beschränkt oder allgemein, schlüssig zu argumentieren und faktenbasiert der interessierten Bevölkerung zu vermitteln. Der Widerstand der Impfskeptiker wird sich verfestigen.


Man muss auch bedenken,  dass schon längst in unseren Spitälern triagiert wird. Das wird zwar verständlicherweise nicht gerne von Medizinern erwähnt, ist aber Realität. Alte und aufgrund von schweren Vorerkrankungen Vulnerable werden daher wegen ihrer geringen Genesungschancen erst gar nicht mehr auf die Intensivstationen verlegt. Sie sterben auf den Normalstationen. Aufgrund der rasant gestiegenen Infektionszahlen sind natürlich auch sehr viele junge Ungeimpfte hospitalisiert. Aus der Schweiz liegen sehr detaillierte Zahlen aus der ersten Novemberhälfte 2021 über die Alterszusammensetzung und den Impfstatus der wegen einer Covid-19-Erkrankung Hospitalisierten vor. Daraus ist ein Verhältnis von etwa 1:2 zwischen unter 60-jährigen und über 60-jährigen ungeimpften Patienten errechenbar. Dieses Verhältnis hat sich mit dem Fortschreiten der Pandemie naturgemäß immer mehr zu Ungunsten der Jüngeren verschoben, da bereits viele der besonders vulnerablen älteren Ungeimpften verstorben sind und die Durchimpfungsrate der Alten bereits sehr hoch ist. Da bleiben zwangsläufig immer mehr jüngere Ungeimpfte übrig, die wegen ihrer besseren Chancen auf Überleben und Gesundung, bei schweren Fällen auf die Intensivstationen verlegt werden.


Unsere Regierung hat, durchaus konsequent, bisher alle Grundrechte einschränkenden Zwangsmaßnahmen damit begründet, dass die Überbelegung der Spitäler, vor allem der Intensivstationen, unter allen Umständen verhindert werden müsse. Angesichts der vorhin beschriebenen aktuellen Situation in unseren Spitälern muss man zugestehen, dass der Regierung, jetzt durch zahlreichen Versäumnisse in Zeitnot geraten, nichts anderes mehr übrig bleibt, als sich für eine Impfpflicht einzusetzen. Die absolute Zahl der ungeimpften Jungen in den Spitälern ist einfach zu groß geworden. Der demokratiepolitische Schaden wird allerdings beträchtlich sein.

bottom of page