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Corona-Text 3: Droht eine Gesundheitsdiktatur? (3. April 2020)

1. Die Dystopie von George Orwells "1984" ist längst von der Wirklichkeit überholt worden


Ältere sind mit der Lektüre von Orwells Dystopie "1984" aufgewachsen. Geschrieben unter dem Eindruck der allmählich auch im Westen endlich wahrgenommenen Berichte über das stalinistische Terrorregime, schienen uns damals die beschriebenen technischen Mittel der Überwachung einer ausufernden Phantasie entsprungen. Heutige Technologien haben längst schon diese kühn, visionären Bilder übertroffen. Das muss hier nicht weiter ausgeführt werden. Heute kann man in jedem elektronischen Supermarkt für einen zwei- bis dreistelligen Betrag ein Equipment einkaufen, von dem James Bond nur träumen hätte können.


2009 haben Julia Zeh und Ilija Trojanow eine sehr erfolgreiche Warnschrift verfasst gegen den, ihrer Meinung nach, nicht nur drohenden, sondern bereits weitgehend Wirklichkeit gewordenen Überwachungsstaat, mit dem reißerischen Titel: "Angriff auf die Freiheit". Das erklärt Ziel dieser Streitschrift war die Mobilisierung gegen den totalitären Staat. Die Befürchtungen der Autoren mag man, je nach politischer Einstellung, unterschiedlich sehen und für übertrieben halten. Jedoch:

Gegenwärtig werden zur Bekämpfung der Corona-Pandemie im weltumspannenden Großversuch verschiedene Überwachungs- und Kontrollmethoden erprobt. Dabei wird aber nicht nur deren Wirksamkeit getestet, sondern steht auch die Bereitschaft einer Gesellschaft auf dem Prüfstand, wie weit sie bereit ist, weitgehende Einschränkung persönlicher Freiheiten hinzunehmen. Auffällig ist, wie die angebliche Effektivität Pekings totalitaristischer, technologisch hochgerüsteter Überwachungsmaschinerie bei der Seuchenbekämpfung, auch viele westlich-demokratisch orientierten Politiker dazu verführt, diesen Techniken der Macht positive Seiten abzugewinnen. Hier sollten aber nicht nur diese aktuellen Bezüge interessieren, sondern das Allgemeingültige, welches dabei sichtbar wird.


2. Macht tendiert zur Ausweitung ihrer Reviere. Wo ihre Objekte auf Widerstand verzichten, kristallisiert Macht zur Herrschaft.


Es ist zu fragen, ob das Interesse des Staates beziehungsweise seiner Organe an Kontrolle, wie manche Autoren meinen, naturgegeben ist, weil Institutionen und ihre Vertreter und jede Macht tendenziell immer nach Ausdehnung ihrer Reviere streben. Sobald aber die unterlegenen Objekte, also wir Bürger, auf Widerstand verzichten, kristallisiert Macht zur Herrschaft. Nicht Normen und Institutionen konstituieren soziale und politische Herrschaft sondern unser Konformismus. Die Angst der Macht zu widersprechen, vereinzelt und verlassen am Rand der Gesellschaft zu stehen, ausgesetzt dem Zorn, ja auch der Verachtung der gefügigen Mehrheit, ist menschlich. Vieles wird gefürchtet, so auch die Einsamkeit jenseits des Mainstreams. Wer verzichtet schon leicht auf das beglückende Erlebnis der Übereinstimmung, darauf, sich eins zu wissen mit anderen die wir schätzen, mit den anderen in unseren sozialen Bezugsgruppen.


Macht widerstrebt jeder Selbstbeschränkung, die Tendenz zur Ausweitung ist ihrer DNA eingeschrieben. Unberechenbare Objekte, also Bürger über die man wenig weiß, sind ihr ein Ärgernis. Und ist es denn auch nicht vernünftig, möglichst viel über die Objekte staatlichen Handelns zu wissen? Es kann dann doch für sie weit effektiver geplant und vorgesorgt werden. Vollzogen hat sich längst in unseren modernen Gesellschaften ein Wandel vom Staat, vor dessen Zugriff man sich sorgt zu jenem, der für uns sorgt. Musste man sich einst vor ihm in Sicherheit bringen, so sorgt er jetzt für unsere Sicherheit. Das ist angenehm und entlastet.


3. Der kontrollierende und für unser Wohl sorgende Sozialstaat als Bedrohung privater Sphären.


Ist es zum Beispiel nicht höchst vernünftig, möglichst viel über die Gesundheitsdaten der Bürger zu wissen (Stichwort Elga)? Man könnte dann Doppel-Befundungen einsparen, oder unvereinbare Medikationen vermeiden. Totalitär Gestimmte könnten viel weiter gehen und meinen, es wäre doch viel zielführender, zur Hebung der Volksgesundheit, schon bei der Geburt dem Säugling einen Chip zu implementieren, der alle relevanten Parameter regelmäßig an die zentrale staatliche Gesundheitsbehörde sendet. Diese könne  dann  maßgeschneiderte Empfehlungen schicken. So wie bei Streaming-Plattformen à la Netflix: "Das könnte Dich interessieren". Im "Package" sind Vorschläge zur Änderung meines Lebensstils enthalten und ein Gutschein für den staatlich finanzierten Aufenthalt in der komfortablen Kuranstalt. Wer solche Vorschläge nicht annehmen wolle, habe eben die mit der Ablehnung verbundenen Nachteile sich selbst zuzuschreiben, denn die Hebung der Volksgesundheit läge jedenfalls im allgemeinen Interesse.


Alles übertrieben, droht gar die Gesundheitsdiktatur? Natürlich nicht, aber Tendenzen dazu gibt es.


4. Datenschützer im Konflikt mit Gesundheitsschützern

Der Ausgleich des Konfliktes zwischen dem Staat - als Wahrer des Allgemeinen Interesses - und jenem des Individuums, ist in einer demokratisch verfassten Gesellschaft im öffentlichen Disput auszuhandeln. Gegenwärtig werden Maßnahmen zur Pandemiebekämpfung erwogen, welche bei manchen die Befürchtung hervorrufen, es würden jetzt erste Schritte in Richtung eines Überwachungsstaats Orwell'scher Fasson gesetzt. Diskutiert werden dabei Instrumente, wie etwa Contact-Tracing via App, Anwesenheitslisten bei Besuch von Veranstaltungen privater oder öffentlicher Natur und bei Restaurantbesuchen, die in Asien, scheinbar erfolgreich, die Infektionsverbreitung eindämmen konnten. "Datenschützer" vertreten dabei die Position des vor der Kontrolle des privaten Raumes durch den Staat zu schützenden Einzelnen und "Gesundheitsschützer" jene des "Allgemeinen Interesses". Der Brandbeschleuniger "Corona" setzt diese Debatte unter Zeit- und Erfolgsdruck. Daher prägen Verkürzungen, Totschlagargumente und Oberflächlichkeit den öffentlichen Diskurs.


5. Die Bedrohung privater Sphären im Herrschaftsraum des Öffentlichen.


Worin besteht nun wirklich das Interesse des Individuums, sich keinesfalls kontrollieren, bzw. überwachen zu lassen? Was ist denn so schlimm daran? In der kleinen, protestantisch geprägten holländischen Stadt vollzieht sich das häusliche Leben hinter großen, vorhanglosen Fenstern, oft gut einsehbar von der Straße. Schweden stoßen sich nicht daran, dass der Nachbar ihre Steuererklärung auf dem Internetportal der Finanzbehörde nachlesen kann.


Der private Raum ist öffentlich geworden. Vorläufig noch undenkbar in unseren katholischen Landen, die aber im Zuge der fortschreitenden Säkularisierung und Homogenisierung, dorthin schon längst unterwegs sind. Den "gläsernen Konsument" nehmen wir hin, weil's bequem ist, der "gläserne Patient" wird davor geschützt, falsch behandelt zu werden, und den "gläsernen Bürger" gibt es schon längst, ohne dass wir es bemerken. Transparenz versus Geheimnis, Schrägstrich Geheimhaltung, Offenheit versus Verstecken? Die Forderung nach umfassender "Transparenz" ist, ohne Verdacht zu erregen, kaum ablehnbar. Das passende Schlagwort dazu: Wer nichts zu verbergen habe, brauche doch nichts zu befürchten.


Machttechniker wissen um die disziplinierende Kraft des öffentlich Machens. Wer gesehen wird, muss sich an die Regeln und Normen halten, jeder Verstoß wird sichtbar, und wenn schon nicht juristisch, so zumindest sozial sanktionierbar. Wenn das Private öffentlich gemacht wird, verkümmern die Möglichkeiten des Individuellen und der Abweichungen von der Norm. Wer die Enge des Dorfes erfahren und damit den Begriff der "sozialen Kontrolle" als Euphemismus erlebt hat, wird die Anonymität der großen Stadt zu schätzen wissen, jenem Ort, wo die Abweichung von der Norm in der Unübersichtlichkeit verschwindet. Früher sagte man dazu: "Stadtluft macht frei".

Warner sehen in den zunehmenden Tendenzen zur Ausweitung der Möglichkeiten des überwachenden und kontrollierenden Staates einen Angriff auf das Zentrum des Individuellen, dort wo alles beginnt und wirkt, was uns vom Anderen unterscheidet. Jenem Ort der Geheimnisse, in welchem wir sicher sind und von wo nicht nur die Individuation des Menschen, sondern auch alle Kultur ihren Ausgang nimmt. Bürger in modernen westlichen Demokratien gehen in der Regel davon aus, die Staatsmacht sei ausreichend eingehegt und gezähmt worden. In der aktuellen Corona-Krise ist allerdings sichtbar geworden, dass der Leviathan hinter dem Schleier des Wohlfahrtsstaates nur schläft.


6. Ist alles alternativlos?


Unser Leben und damit die Gesundheit ist das höchstes Gut. Wer wagt es, in Zeiten der Pandemie und medial sowie per Regierungsproklamation angeheizter Angstfantasien, dem zu widersprechen. Vor der unerklärlichen, unsichtbaren Bedrohung verlieren eingeübte Wertehierarchien ihre Bedeutung. Das zu Normalzeiten, in Zeiten des Friedens (auf der Insel der Seligen?) gültige, fein austarierte Regelwerk aus Gesetzen, Normen und informellen Usancen, hat über Nacht seine Gültigkeit verloren. Jetzt wird regiert. Jetzt wird bestimmt. Jetzt wird auch durchgegriffen (und wann, wenn nicht jetzt in Zeiten des verordneten Notstandes, tut es Not?). Der Krieg ist ausgerufen und der bisher unsichtbare Staat ist hinter dem Schleier demokratischer Verhüllung hervorgetreten. Und manchem empfindlichen Gemüt scheint's der hässliche Leviathan zu sein. Er hat die, seine Bewegungsfreiheit behindernde, demokratische Be- und Verkleidung abgeworfen und der hier wohnhaften Bürger erlebt sich jetzt, in Wohnhaft sitzend (Copyright Peter Weibel), als Untertan. Wir gehorchen, weil es vernünftig ist. Zweifel an so mancher der Entscheidungen werden hintan gestellt, manchmal unterdrückt, um die Wirksamkeit der Maßnahmen nicht zu gefährden. Nicht nur die Macht, sondern auch die ihr Unterworfenen meiden den Zweifel, wie der Teufel das Weihwasser.

Aber: Je länger wir im Maßnahmenvollzug verwahrt werden, desto mehr werden Stimmen des Widerstandes gehört. Man beginnt, wo anfangs die verstörenden Bilder aus der Lombardei uns in panisches Entsetzen und Isolation getrieben haben, über die fest geschlossenen Grenzen zu schauen, zu vergleichen, wie denn das Leben andernorts verlaufe. Die Mathematiker und wohl auch die viel geschmähten Statistiker - Stichwort "Lügen mit Statistik" - kommen zu neuen, ungewohnten Ehren. Gläubig verfolgt die Nation den Verlauf steil ansteigender Infektionskurven und sehnt ihre Verwandlung in freundlich, beruhigende Glockenkurven herbei. Das nicht Fassbare wird grafisch sichtbargemacht, das Grauen vor dem Unsichtbaren gebannt. Die diffus lähmende Angst, die Schreckstarre weicht der Zuversicht. Licht am Endes des Tunnels, verkünden Regierungssprecher. Aber Vorsicht, es könnte auch, bei falsch gestellten Weichen, das Licht des entgegenkommenden Schnellzugs sein. Jetzt komme die schwierige Phase der Hafterleichterungen. Da müsse mit Augenmaß vorgegangen werden, nichts überstürzt, sonst fielen wir allzu schnell zurück in die Katastrophe. Wir verstehen das, trotzdem wachst die Zuversicht. Und mit dieser weitet sich das Gesichtsfeld, die angstbestimmte Einengung des Blicks, umschrieben mit dem Euphemismus Fokussierung, weicht zurück.


Jetzt, wo es nicht mehr bloß um die Rettung des nackten Lebens zu gehen scheint, wächst bei einigen wenigen die Bereitschaft zu kritischer Betrachtung, auch bei jenen, welche nicht in ihrer DNA eingeschrieben haben, sich grundsätzlich und reflexhaft gegen den Mainstream der Meinungen zu positionieren. Allmählich ist es wieder möglich geworden, einander widersprechende Werte gegeneinander abzuwägen und zu versuchen, im öffentlichen Diskurs den Ausgleich zu finden. Eben wieder in jenen Prozess hinein zu finden, welcher das Wesen demokratisch verfasster Gesellschaften ausmacht, nämlich die Interessen der Gemeinschaft gegen jene des Individuums, Freiheit versus Maßnahmen zum Schutz der Gesundheit, oder zum Beispiel Solidarität mit der Wahrung von Einzelinteresses abzugleichen.


Optimistisch stimmt mich, dass nach Wochen von oben autoritär verordneter und zielgerichtet befeuerter Schreckstarre, sich wieder differenzierende Stimmen nicht nur regen, sondern auch - wenn auch spärlich - Gehör finden.


Jetzt ist es wieder, ohne gleich an den Pranger gestellt zu werden, erlaubt zu fragen, ob denn der Rettung des nackten Lebens tatsächlich unter allen Umständen der Primat über alles einzuräumen ist. Muss sich die Bewahrung der menschlichen Würde, tatsächlich als letzte anstellen in der langen Schlange vor dem Supermarkt, in dem nur mehr die Grundnahrungsmittel erhältlich sind. Muss in Zeiten der Not tatsächlich nur mehr für Speis und Trank gesorgt werden, zählt tatsächlich nur mehr der blanke Materialismus der Zahl? 10% weniger Tote, wer kann da noch etwas einwenden gegen die Maßnahmen? Wir haben die Alten geschützt und gerettet, sie haben überlebt, daher war und ist alles durch die eindrucksvollen Zahlen im Nachhinein gerechtfertigt. Ist das wirklich so?

Wer die Berichte über das oft elende, moribunde Dahinvegetieren der Alten, nach ihrer Rettung durch intensivmedizinische Behandlung kennt, wer das durch die befohlene Isolation vermehrte Leid gewaltsam vereinzelter, von ihren Freunden, Bekannten und Angehörigen abgeschnittener alter Menschen erlebt hat, wird zustimmen, dass diese Fragen nicht ganz eindeutig beantwortet werden können.


Ich habe, weiter oben im Text, danach gefragt, ob wir unterwegs in die Gesundheitsdiktatur wären und zugleich auch mit Nein geantwortet. Allerdings auch gleich angefügt, dass es Tendenzen in diese Richtung gäbe. Im Notstand der Krise sind diese klarer sichtbar geworden. Der Rettung des bloßen Lebens wurde vieles untergeordnet. Eine solche lässt sich leicht in Zahlen dokumentieren und im Vergleich mit anderen Staaten (prahlend?) die Überlegenheit des eigenen Systems herausstellen. Von daher kommt die kaum verhüllte Bewunderung dafür, wie die Chinesen es geschafft hätten, mit der Krise fertig zu werden. Wie hält man es aber mit den Auswirkungen auf die seelische Gesundheit, die soziale Entwicklung der Kinder, das wirtschaftliche Überleben der Abgehängten unserer Drittelgesellschaft, dem Überleben der Künste; kommt das in den veröffentlichten Überlegungen und Konzepten vor? Sichtbar geworden ist jedenfalls die Neigung zum reduktionistischen Denken und zur Fokussierung auf mit griffigen Schlagworten darstellbares Handeln. Der unmittelbar visualisierbare Erfolg bestimmt das mediengerecht vermarktete Auftreten der Akteure. Entscheidungen werden als alternativlos dargestellt. Nicht Messbares wird ignoriert. Die Bürger sehen zu.


Anmerkung zum Kapitel 1:


Das eindrucksvolle, überspitzte Einführungskapitel jener erwähnten Polemik "Angriff auf die Freiheit" der Autoren J. Zeh und I. Trojanow, wirkt in Aufbau und Inhalt wie das Plagiat eines anderen ersten Kapitels. Nämlich jenem, des einige Jahre früher erschienenen Buches "Verteidigung des Privaten". Darin setzt sich der deutsche Soziologe Wolfgang Sofsky, allerdings wesentlich tiefer schürfend, mit der eigentlichen Problematik auseinander, welche weit über die politischen Aspekte des Themas hinausgeht, nicht ohne diese auch einer eingehenden Betrachtung zu unterziehen. Er berührt dabei die weiten Felder der Bedeutung von Geheimnissen für die Individuation und unsere Kultur, mit der sich, schon ein Jahrhundert zuvor, sein Berufskollege G. Simmel umfassend auseinander gesetzt hat.

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