Corona-Text 9: Warum hörte keiner zu? (31. März 2021)
Alles begann mit einem Schock.
Wir erinnern uns noch daran. Die verstörenden Bilder aus den überfüllten oberitalienischen Spitälern, auf den Gängen aneinandergereihte Betten im bleichen Kunstlicht, herabhängende Schläuche, dazwischen kaum Platz für die gehetzten, grün-weißen Gestalten ohne Gesichter, Augen verborgen hinter großen Schutzbrillen, vermummte, unkenntliche Köpfe. Alptraumhafte Fotos wie aus Tschernobyl. Und dann der Film aus Bergamo. Der Blick hinunter auf die düster beleuchtete, nächtliche, menschenleere Straße. Eine endlos scheinende, langsam und tonlos dahin-rollende Prozession von grau-schwarzen Armeelastwagen mit den Särgen der Corona-Toten, für die kein Platz mehr zu finden war auf dem Friedhof der Stadt.
Schon in den ersten Monaten der sich rasant ausbreitenden Seuche war vieles sichtbar, das in den verordneten Maßnahmen zur Eindämmung des Infektionsgeschehens keinen Niederschlag fand. Wir schützen die Alten, die Vulnerablen, war die oberste Maxime, der alles andere untergeordnet werden sollte. Das war verständlich und nachvollziehbar, denn die veröffentlichten Zahlen sprachen eine deutliche Sprache.
Manche vermissten jedoch die Berücksichtigung einer Gesamtschau, die fehlende Abschätzung der Auswirkungen der massiven Einschränkungen auf das gesellschaftliche Geschehen, die eindimensionale, eingeengte Betrachtungsweise. Waren nur die Alten und Kranken vulnerabel, galt das nicht auch für unsere Kinder und die Jungen? Würden die durch den Lockdown verursachten wirtschaftlichen Schäden, die Arbeitslosigkeit in der Zukunft nicht auch große Auswirkungen auf die Volksgesundheit und damit auch auf die Lebenserwartung vieler haben; sollten wir nicht anders mit der Pandemie umgehen, als einfach nur alles zuzusperren, würde sich nicht zeigen, dass der Schaden größer als der Nutzen wäre?
Vor allem die Public-Health-Experten, also die Spezialisten für das Unspezielle, waren es, die schon früh einen komplexeren Blick auf das Geschehen einmahnten. Ihren Stimmen wurde kein Gehör geschenkt. Die einen zogen sich frustriert aus den Beratergremien der Regierungen zurück, andere wieder, die es gewagt hatten, öffentlich die eindimensionalen, undifferenzierten Maßnahmen zu kritisieren, lösten nicht nur in Sozialen Medien Stürme der Entrüstung aus. Man musste feststellen, dass abweichende Meinungen in den Leitmedien kaum veröffentlicht wurden, nicht einmal fundierter, gut begründeter Kritik Raum gegeben wurde. Für jene Experten, die nicht gewillt waren sich resigniert zurückzuziehen, war es nicht leicht, geeignete Bühnen zu finden, um sich Gehör zu verschaffen. Sie mussten sich damit abfinden in Sozialen Medien aufzutreten, oder auf dem einen oder anderen Privatsender den Platz mit randständigen, oft selbsternannten Experten, Verschwörungstheoretikern, Corona-Leugnern und Krawallmachern zu teilen, was ihrer Glaubwürdigkeit nicht gerade dienlich war.
Vieles, auf das diese ersten Mahner hingewiesen hatten, wurde mit zunehmender Dauer der Einschränkungen peu à peu, überaus zögerlich und widerstrebend, toleriert; vorerst als alternative Meinung gerade noch so weit hingenommen, dass damit ein Gespräch über unterschiedliche Sichtweisen und eine differenziertere Auseinandersetzung möglich wurde.
Auf ein Jahr erlebten Pandemiegeschehens zurück schauend, zeichnen sich die Konturen jener Gründe ab, die dafür verantwortlich gewesen sein könnten, dass auch auf nachvollziehbar rational argumentierende Kritiker der Maßnahmen nicht nur nicht gehört wurde, sondern diese auch oft als Verharmloser oder sogar Leugner diffamiert worden sind. Die Zurückweisung ihrer Ansichten erfolgte zuweilen mit derart heftigen Emotionen, dass jeglicher Argumentationsversuch schon im Ansatz zum Scheitern verurteilt war. Diese Akte der Diskursverweigerung werfen Fragen nach dahinter liegenden, verborgenen Gründen auf.
Der Medizinisch-Industrielle Komplex
In den entwickelten westlichen Demokratien ist Gesundheit zu einem wichtigen Wirtschaftsfaktor geworden. Hier wird viel Geld ausgegeben und viel Geld verdient. Das muss nicht näher erläutert werden, wir alle kennen sowohl die Wohltaten als auch die Mängel und sind, ob wir wollen oder nicht, Teil des Systems, sei es als Handelnde oder Behandelte. Manche wollen und können sich entziehen, sie gehen nicht zum Arzt wenn sie krank sind oder zur Vorsorge-Untersuchung, lassen sich nicht impfen und nehmen keine Medikamente. Aber irgendwann einmal landen auch sie im Krankenhaus und geraten in die Maschinerie der Gesundheitsindustrie, sei es, weil sie einen Unfall hatten oder ihr Lebensende naht.
Die Gesundheitsindustrie geht von der Prämisse aus, dass Leben unter möglichst allen Umständen zu erhalten sei, kein Aufwand sei zu scheuen, um es zu verlängern. Der Tod ist Feind - und tatsächlich hat die moderne, wissenschaftsbasierte Medizin fantastische Erfolge im Kampf gegen ihn aufzuweisen. Wenn dann aber, trotz aller Behandlungsversuche ein finales Stadium erreicht wird, vermögen palliative Methoden das Ende erträglicher zu machen. Die Anwendung solcher Mittel ist allerdings bis heute für viele Ärzte nicht selbstverständlich. Das wird unter anderem am geringen Anteil der Ausgaben für Palliativmedizin deutlich.
Aus einer eingeengten, rein volkswirtschaftlichen, weitgehend wertebefreiten Sicht betrachtet, macht diese restriktive Haltung durchaus Sinn, denn je zeit- und kostenintensiver die Behandlung im "Medizinisch-Industriellen Komplex", desto höher der damit erwirtschaftete Beitrag zum Bruttonationalprodukt und damit zum Wirtschaftswachstum. Man könnte also zynisch überspitzend formulieren: Da der Patient nach der finalen palliativen Behandlung keinen Beitrag mehr zum Wachstum leisten könne, müsse dieses Stadium so lange wie möglich hinausgezögert werden.
Es gibt also durchaus handfeste, materielle Gründe für die Dynamik ausufernder, medizinischer Behandlungen. Das ist natürlich nur aus der eingeschränkten Sicht der Gesundheitsindustrie vernünftig, nicht aber in einer ganzheitlichen Betrachtung. Ärzte, die vom hohen Ethos des bedingungslosen Kampfes gegen ihren Feind - den Tod - getragen werden, befinden sich im Einklang mit den skizzierten materiellen Interessen des Systems. Für sie ist Leben, und sei es auch bloß nur mehr das nackte Leben, der höchste aller Werte, das ist das solide Fundament ihres Handelns. Zu fragen, ob denn in einem konkreten Fall das Leben noch ein lebenswertes sei, oder etwa ein anderes schützenswerter sei, brächte diese Basis ins Wanken und verunsicherte zutiefst und muss folgerichtig als moralische Zumutung zurückgewiesen werden.
Dort aber, wo diese Abwägung nicht mehr vermieden werden kann, also triagiert werden muss, werden quantitative Methoden angewendet. Es entscheiden dann einfach die Zahlen, wer zu schützen beziehungsweise zu retten sei, wer also zum Beispiel, prozentuell betrachtet, die besseren Überlebenschancen hat.
Das Trauma des Dritten Reiches
Ein Arzt tötet nicht. Alle Jahre wieder flammen in Österreich und Deutschland Diskussionen rund um die Sterbehilfe auf. Die Debatten werden oft höchst emotional geführt, was vor dem Hintergrund unserer historischen Erfahrungen auch verständlich ist.
Die sozialdarwinistischen, völkisch-rassistischen Theorien des 19. und 20. Jahrhunderts ebneten den Weg in die Vernichtungslager des Dritten Reiches. Es begann mit den Rassenhygiene-Gesetzen, in denen der Begriff der Euthanasie euphemistisch missbraucht wurde, um der Tötung von Behinderten und psychiatrisch Erkrankten durch Ärzte den Anstrich der Legitimität zu geben und endete in den Gaskammern von Ausschwitz. Danach war das Reden über den "Guten Tod" (Euthanasie) tabu.
In der Anfangsphase der Pandemie wusste man noch wenig über gute Behandlungsmethoden, man war hilflos. Relativ rasch wurde aber erkennbar, dass die Jungen kaum erkrankten und wenn das geschah, war es nicht lebensbedrohend. Wirklich in Gefahr waren die Alten. Viele starben auf den Intensivstationen, ohne ihre Nächsten noch sehen zu dürfen, umgeben vom vermummten Spitalspersonal. Ein kleinerer Teil konnte überleben - oft mit schweren, irreparablen Schäden - die dann zuweilen einige Monate später, weiterhin von ihren Angehörigen abgeschirmt, an anderen Krankheiten starben. Es dauerte viele Monate, um differenziertere Behandlungsmethoden zu entdecken, welche die Aufenthaltsdauer auf den Intensivstationen verkürzen und die Folgewirkungen begrenzen konnten.
Unter dem Motto "wir schützen unsere Alten" verordnete die Regierung einen radikalen Lockdown, der das gesamte gesellschaftliche Leben zum Stillstand brachte. Es gab strikte Besuchsverbote in Altersheimen und Krankenanstalten, Großeltern sahen nicht mehr ihre Enkelkinder und Eltern mussten ihren Kindern zu erklären versuchen, sie dürften Oma und Opa nicht mehr besuchen, weil diese durch sie angesteckt werden könnten und dann sterben müssten.
In dieser Situation meinten manche Gesundheitsexperten, man müsse nach der Verhältnismäßigkeit dieser Maßnahmen fragen und ob sie ethisch vertretbar seien, nur um den Tod alter, oft bereits moribunder Menschen mit allen Mitteln um ein Weniges hinauszuzögern zu können. Und das alles um den Preis ihres Sterbens in Einsamkeit, getrennt von ihren Nächsten und unabsehbarer Kollateralschäden in vielen Bereichen der Gesellschaft, welche die Jungen in der Zukunft noch massiv treffen würden. Letztlich stelle sich auch die Frage nach dem "Guten Tod", einem Sterben in Würde.
Wer es in den ersten Monaten der Pandemie wagte solche Fragen öffentlich zu stellen, wurde im besten Fall ignoriert oder musste in Kauf nehmen, zumindest als Sozialdarwinist diffamiert zu werden, wenn nicht andeutungsweise in die Nähe nationalsozialistischer Ideologie gerückt zu werden. In der Heftigkeit der Reaktionen zeigte sich, dass das Trauma des Dritten Reiches nur scheinbar aufgearbeitet wurde und ein Reden über den "guten Tod" noch immer nicht möglich ist.
Wertehierarchien in der Krise
"Geht's der Wirtschaft gut, geht's allen gut"
"Gesundheit ist das Wichtigste"
"Bildung ist die beste Investition in die Zukunft"
"Es gibt keinen Planet B", "Keine Kohle für Kohle"
Wir kennen die griffigen Slogans. Im Verteilungskampf um knappe Ressourcen werden die aus den jeweiligen Werthaltungen abgeleiteten Ansprüche möglichst absolut gesetzt. Je nach Standort sind die Wirtschaft, das Gesundheitssystem, das Bildungswesen oder der Umweltschutz das Allerwichtigste. Die Praxis der Politik entfaltet sich im Aushandeln der Mittelverteilung zwischen den konkurrierenden Ansprüchen, im Suchen nach dem Ausgleich oft zu einander im Widerspruch stehender Werthaltungen. Im Ausnahmezustand der Seuche wird dieser Prozess schlagartig außer Kraft gesetzt, es gilt das nackte Leben zu retten.
In kollektiver Angst rücken Gemeinschaften zusammen, Politiker rufen auf zum "Schulterschluss". Wirtschaft, Bildung und Umweltschutz werden nachrangig, der Schutz der Gesundheit wird priorisiert. Das vereinfacht Entscheidungen, weil das mühsame, konfliktreiche Abwägen der Werte entfallen kann, ohne auf großen Widerstand zu treffen. Es ist auch angenehm - für die Entscheider - denn endlich werden sie als solche auch von einer breiten Öffentlichkeit nicht nur wahrgenommen, sondern auch geschätzt. Je klarer ihre Ansage, desto deutlicher die Zustimmung. Das spiegelt sich schnell in den Umfrageergebnissen wieder. Das ist verlockend und verführt zu eindeutigen Ankündigungen auch dort, wo Vorhersagen aus guten Gründen nicht möglich sind. Wichtig ist auch die Sichtbarkeit und Spürbarkeit verordneter Maßnahmen. In einem Feld der Ungewissheit gibt das Sicherheit. Wenn wir uns nur ganz konsequent einschränken wird es gelingen, den Kampf gegen das Virus zu gewinnen. Wer sich nicht an die Maßnahmen hält ist ein Gefährder, wer gehorcht rettet Leben. Auch die Kriegsrethorik gibt Sicherheit im Feld des Ungewissen und Unsichtbaren.
Die erzwungene Abtretung persönlichen Verantwortlichkeit und Entscheidungsfähigkeit an Staatsorgane führt zu einer nicht nur individuell, sondern auch gesamtgesellschaftlich feststellbaren Regression, die im Symbol des Babyelefanten als Abstandhalter ihren sichtbar infantilen Ausdruck findet.
Es überrascht nicht, dass im Umfeld einer infantilisierten Gesellschaft Stimmen, welche differenziertere Betrachtungen und Bewältigungsstrategien - also erwachsenes Verhalten - einforderten nicht nur auf Unverständnis, sondern auch auf abwertend, emotionale Ablehnung gestoßen sind. Das sollte sich erst in späteren Phasen der Pandemie ändern als deutlicher erkennbar wurde, dass die Auf-Zusperr-Methode, vielleicht doch nicht die beste aller Entscheidungen gewesen war.
Die Verdrängung des Todes
Wir sehen nicht mehr das Sterben. Gehörte es früher zu den Erfahrungen Heranwachsender, auch das Sterben Angehöriger zu erleben, so hat sich das fundamental geändert. Gestorben wird im Spital oder auf der Pflegestation im Altenheim. Kinder wachsen heran, Erwachsene werden alt ohne je konkretes Miterleben erfahren zu haben. Sie kennen nur die medial verfremdeten Bilder gewaltsamen Todes aus dem TV oder von der Kinoleinwand, wo es nur großer Kunst gelingen kann, den Prozess des Sterbens zu vermitteln und nahezubringen. Wir haben nicht "gelernt", wie Sterben geht und wissen auch nicht wie es aussieht. Es bleibt uns verborgen als ein Nicht-Fassbares hinter dem Paravent, den unsere technische Zivilisation errichtet hat.
In keiner Epoche der Menschheitsgeschichte war die Verdrängung des Todes so allgegenwärtig wie heute in der westlichen Welt. Mit der Übernahme unserer Wertvorstellungen hat diese Entwicklung schon längst auch den Osten ergriffen. Die moderne kompetitive Leistungsgesellschaft lebt die Phantasmagorie ewiger Jugend und Kraft sowie unbegrenzten Wachstums und Fortschritts, im Grunde also die Sehnsucht nach ewigem Leben. Bei Helmut Qualtinger hieß das: "I hob zwoa ka Ahnung wo i hinfoahr, aber dafür bin i g'schwinder durt". Work-Outs im Fitnesscenter, Verjüngungskuren, Anti-Aging-Cremes, Hormontherapien und Schönheitschirurgie nähren die Illusion, dieses Versprechen einlösen zu können.
Und dann werden wir - übergangslos - aus dieser behaglich-heilen Welt von Schönheit, Kraft und ewiger Jugend unvermittelt herausgerissen. Tagtäglich konfrontiert mit nicht nur stetig, sondern drohend exponentiell ansteigenden Kurven, wird uns drastisch vor Augen geführt, dass auch wir morgen infiziert sein und übermorgen zombifiziert auf der Intensivstation liegen könnten, unser Sterben nicht unwirklich weit entfernt, sondern etwas reales Bevorstehendes ist. Darauf waren wir nicht vorbereitet.
Sich das Nicht-Sein vorstellen
Die Moderne kennt keine zyklische Bewegung, sondern nur eine einzige Richtung, nämlich jene nach vorne. Und das möglichst schnell. Dass dieses Voranschreiten zum Ende führen muss, wird verdrängt. So wie wir das Nichts nicht denken können, können wir uns auch nicht vorstellen nicht zu sein. Diese erkenntnistheoretische Plattitüde hilft uns allerdings auch nicht weiter, denn wer versucht diese Türe zum Nichts einen Spalt zu öffnen, schaudert zurück. Oder er wird Philosoph. Aber dann macht er auch nichts anderes als wir, nur mit anderen Mitteln: Er meidet den Blick ins Leere. Nur wer krank im Gemüt ist oder unter unerträglichen Qualen seines Körpers zu leiden hat, kurz wer sich der Schwelle seines Todes genähert hat, kann anders empfinden.
Manchen alten Menschen gelingt es, ihr Leben als eine zyklische Bewegung zu verstehen. Der Blick ist öfter zurück in ihre Vergangenheit gerichtet, die Zukunft nicht mehr lockend. Nicht zufällig erzählen sie gerne vom Erlebten, Gewesenen und beschäftigen sich vielleicht auch damit, ihre Angelegenheiten zu ordnen, ein bestelltes Feld an die nachfolgende Generation zu übergeben. Sie beschäftigen sich nicht mehr mit sich und ihren Plänen, sondern ihren Kindern und Kindeskindern. Für sie hat der Blick in die Leere hinter ihrem eigenen Tod seinen Schrecken verloren.
Einige sublimierte Erscheinungsformen kreatürlicher Angst
Das Tier "Mensch" hat Angst, es ist ein Mangelwesen. Viele Tiere seiner Lebensumwelt sind ihm überlegen und können ihm gefährlich werden. Sie sind stärker und schneller, hören, sehen und riechen besser. Seine Überlebenschance liegt darin, potentielle Gefahren imaginieren und daher auch meiden zu können. Die allgegenwärtige Angst lässt seine Wachsamkeit nie sinken, würde das geschehen, so wäre er verloren. Er "sichert" ständig - genau so, wie wir es von anderen Fluchttieren kennen. Dieser "nackte Affe" erlebt sich ausgesetzt, nur eine dünne Haut trennt ihn von den ihn umgebenden Bedrohungen. Das meiste, was ihm gefährlich werden kann, sieht er nicht, verborgen durch das Mangelhafte seiner Sinne, oder weil es noch Zukunft ist. Was wird ihn erwarten? Nur die Angstbereiten werden überleben.
Einen Augenblick der Erdgeschichte später, für die Phylogenese aber Äonen, hat der "nackte Affe" sich die Erde unterworfen. So scheint es jedenfalls zunächst. Die fantastische Kreativität seiner neuronalen Netze hat vieles ermöglicht und ihn zum Herren der Biosphäre gemacht. Aber vieles ist ihm geblieben aus der Urzeit seines Daseins in den Savannen von dem, was für ihn damals überlebensnotwendig war. Das liegt nur scheinbar weit zurück, er hat es aber auf dem steilen Anstieg an die Spitze der Evolution nicht verloren. Wie so vieles andere, von dem wir nichts wissen, obwohl es unser Empfinden und Handeln bestimmt. Wir nennen es unser atavistisches Erbe, weil es in unserer gut gepolsterten Gegenwart nichts nützt, ja im Gegenteil oft schädlich ist. Diese aus der Dunkelheit unserer Herkunft kommenden Triebe und Instinkte - das "Tier in uns" - werden im Prozess individueller und gesellschaftlicher Entwicklung verleugnet, unterdrückt, durch Sitte und Selbstbeherrschung eingehegt und letztlich zur Kultur sublimiert.
Triebe wirken in uns energetisch als Antrieb, als Triebkräfte hinter unserem Handeln, Empfinden und Denken und suchen stets nach Entlastung. Sie sind sinnvoll. Hunger, Durst und Sexualität wollen immer wieder aufs Neue befriedigt werden, geschieht das nicht, so implodieren Subjekt und Spezies. Dahinter wirkt Lebenskraft. Erlischt diese, so verschwinden auch die Lust am Essen, Trinken und der sexuellen Lust.
Wie ist das aber mit der Angst, die doch in der Urzeit für das Überleben von Subjekt und Spezies nicht nur genauso wichtig, sondern die Voraussetzung dafür war, überhaupt Hunger, Durst und Sexualität erleben zu können; ist dieser immer latent vorhandene Antrieb uns zu "sichern" - abzusichern -, die frei flottierende Triebkraft der Angst, urplötzlich verschwunden? Man kann nicht ernstlich behaupten, dass es so sei. Sie wirkt weiter - und vor allem immer - in uns und hat viele unspektakuläre, harmlose Erscheinungsformen im Prozess der Mensch- und Gesellschaftswerdung angenommen.
Wir nennen es zum Beispiel bloß "Vorsorge", wenn wir in die Zukunft vorausdenken, Vorkehrungen treffen gegen alle denkbaren Eventualitäten. Es ist ja auch nicht weiter schwer sich zu schützen - es lauert ja kein Säbelzahntiger hinter der nächsten Hausecke. Wir schließen Versicherungen ab gegen alles Denk- und Undenkbare. Versicherungsgesellschaften leben übrigens recht gut von den recht häufigen Mehrfachversicherungen, die sie oft leistungsfrei stellen - wir denken uns "macht nichts, doppelt hält besser, wer weiß, wozu das gut ist". Rational ist das allerdings nicht.
Wir kaufen den vierten Winterpullover, das zehnte Paar Schuhe, das zwanzigste Paar Socken, die Kleiderschränke bersten, auch wenn wir wissen, dass wir das alles eigentlich nicht brauchen werden, wir konsumieren maßlos. Gerne wird argumentiert, die böse Werbung verführe uns dazu, sie erschaffe die Konsumlust, die Bedürfnisse und befriedige diese zugleich immer wieder aufs neue. Das mag zum Teil stimmen, könnte aber auch tiefer liegende Gründe haben.
Viele gehen auch gerne ins Kino, um sich dort von Horrorfilmen ängstigen zu lassen, deren Bilder sie noch in ihre Träume verfolgen. Beliebt sind auch die Hochschaubahnen und andere mörderisch ängstigende Maschinen in den Vergnügungsparks, die kreischenden Passagieren den Kitzel der Todesangst verschaffen. In der Regel werden diese zweifelhaften Vergnügungen in Gemeinschaft genossen, wo alle sich ängstigen, aber kaum jemand seine Ängste eingestehen möchte. Die gemeinsam durchlittene und überwundene Gefahr stärkt die Gemeinschaft. Das ist eine denkbare Erklärung unter einigen anderen. Mir scheint aber, dass hier noch Stärkeres im Untergrund wirkt.
Wir leben hierzulande, nach der längsten Friedensperiode unserer Geschichte, in einem der Wohlfahrt seiner Bürger verpflichteten Staatswesen. Zwar gibt es trotzdem viel zu viele, welche existentielle Not erfahren und für die der Daseinskampf keine Metapher, sondern Alltag ist. Den anderen aber fehlen die realen Gründe Angst zu haben. Dann sucht und findet dieses atavistisch gewordenen Erbe aus der Urzeit der Menschheit Ausdruck und Entlastung auf anderen gut gebahnten Wegen, die Teil unserer Alltagskultur geworden sind. Einige davon habe ich versucht zu beschreiben. Die Quelle vieler unserer regredierenden Verhaltensmuster wird in existentiellen Krisen wie der aktuellen Pandemie deutlicher sichtbar. Sie zu erkennen kann uns zu freierem Denken und Handeln verhelfen.