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Demokratie - Nur ein Schönwetterprogramm? (2023)

Demokratie in der Defensive


Anfang April 2022 brachte es ein jährlich erscheinender politikwissenschaftlicher Bericht in die Schlagzeilen unserer Massenmedien. Österreich war im weltweiten Demokratieranking weit nach unten abgerutscht und wurde nicht mehr zu den liberalen Demokratien gezählt. Plötzlich fanden wir uns nicht mehr wieder in Gesellschaft mit den westeuropäischen Ländern, sondern rangierten sogar hinter Ländern wie Chile, Ecuador oder Uruguay. Für manche ein Schock.


Die Berichte basierten auf dem jährlich erscheinenden "Variety of Democracy Report"des V-Dem-Institute der Universität Göteborg. Dieses politikwissenschaftliche Institut ist weltweit mit ca. 3700 Mitarbeitenden vernetzt und untersucht, Jahr für Jahr Daten aktualisierend, eine Vielzahl von Aspekten, aus deren Zusammenschau sich ein umfassendes Bild des Zustandes der demokratischen Verfasstheit eines Landes ergibt.


Das Resümee des Reports: Lebten vor 10 Jahren 49% der Weltbevölkerung in Autokratien, so sind es heute bereits 70%. Diese Dynamik bildet sich auch in den zahlreichen Diagrammen ab welche beschreiben, wie groß der globale Bevölkerungsanteil ist, der in Ländern lebt, welche zwar noch nicht als Diktaturen klassifiziert werden können, sich aber in diese Richtung bewegen. Da ist im gleichen Zeitraum der Anteil von 5 auf 36 Prozent explodiert. Das ist nicht nur beunruhigend sondern alarmierend.


Der Bericht erschien 2 Monate nach dem Überfall auf die Ukraine. Die Demokratie ist zweifellos in der Defensive und viele beginnen sich zu fragen, ob jetzt alles "den Bach hinuntergeht". Gründet diese Emotion aber auch auf belastbaren Befunden? Schaut das vielleicht nur aus der Froschperspektive so aus? Diktaturen, Krieg, Hunger, ein kurzes, von Krankheiten und Not bestimmtes Leben hat's immer und überall gegeben, die apokalyptischen Reiter waren immer unterwegs.


In der Menschheitsgeschichte ist die Demokratie nur ein überaus seltener Sonderfall, wie etwa im antiken Athen oder Rom. Das waren aber bei näherer Betrachtung doch eher Oligarchien, wo einige wenige bestimmten. Autokratische Herrschaftsformen sind die Regel.


Erst durch den Treibsatz der Aufklärung konnten demokratische Ideen in Teilen Europas Verbreitung finden. Zwar ging es den Proponenten der neuen Ideen anfangs zumeist darum, die bis dahin unwidersprochene Herrschaft der Kirche niederzuringen, um der überschaubar, kleinen Gruppe der Aufklärer Diskursdominanz und Einfluss zu erkämpfen. Die meisten der französischen Aufklärer waren ausgesprochen elitär. Die Strahlkraft ihrer Ideen war aber nicht einhegbar und verlieh dem Aufstieg des Bürgertums zur herrschenden Klasse zusätzliche Dynamik. Mit dem Zusammenbruch der Kolonialreiche fand diese europäische Erfindung auch auf anderen Kontinenten Verbreitung. Aus heutiger Sicht schaut es so aus, als ob diese Entwicklung nicht nur stagniert, sondern rückläufig geworden ist.


Aktuell müssen wir zusehen, wie unsere ein ganzes dreiviertel Jahrhundert währende Friedensordnung zu Grabe getragen wird. Wie gesagt, unsere europäische, denn Kriege, Unterdrückung, Hungertod, Völkermord waren auch in dieser Zeit immer präsent - wenn auch vielleicht nicht immer in allen Köpfen. Dazu kommt, dass wir uns fragen müssen, ob das Gesellschaftsmodell der Demokratie nur mehr etwas ist für ein paar über den Globus verstreute, wohlhabende Länder. Wenn man die Weltkarte betrachtet, sieht es ganz danach aus. Einerseits. Gibt es ein Andererseits?


Könnte es nicht sein, dass jenes desaströse Bild vom weltweit beobachtbaren Zurückweichen der Demokratien, welches sich aus dem zitierten Demokratiereport ergibt, einer perspektivischen Verzerrung geschuldet ist?


Der Bericht legt seinen Fokus auf die letzten drei Jahrzehnte unter besonderer Hervorhebung des spektakulären Rückschlags in den letzten 10 Jahren. Tatsächlich ergibt das Zahlenmaterial, dass die Welt hinsichtlich ihrer Entwicklung hin zu immer demokratischeren Herrschaftsformen wieder dort zu stehen scheint, wo sie in den Tagen des Zusammenbruchs des Sowjetregimes angekommen war. Die Auflösung des Ostblocks hat in der Folge einen überraschenden, unerwartet heftigen Ruck in Richtung Demokratie ausgelöst. Nicht nur in Mittel- und Osteuropa, denn die Strahlkraft blieb nicht auf Europa beschränkt. Diese Veränderungen geschahen rasch.


Demokratie ist aber ein zähes, mühsames Geschäft. Ihre modi operandi sind langsam und unbefriedigend, die Ergebnisse stellen, was in der Natur demokratischen Aushandelns liegt, niemanden ganz zufrieden. Von Krisenzeiten gar nicht zu reden, wo rasches, entschlossenes Handeln erforderlich ist, da sind ihre gewohnten Entscheidungsabläufe zumeist untauglich. Corona hat's gezeigt. Wir sollten uns nicht darüber wundern, dass in den frisch in die Welt gekommenen Demokratien, nach der anfänglichen Euphorie über die neu erwachsenen Freiheiten und Möglichkeiten, sich oft recht bald Endtäuschung ausbreitete. Autoritäre Populisten nutzten die Gunst der Stunde, um das Rad zurück zu drehen. Wenn wir aber nur etwas weiter zurück schauen, etwa ins spätkolonialistische ausgehende 19. Jahrhundert sieht das schon etwas anders aus. Dann sehen wir deutlicher den Wertzuwachs der Aktie Demokratie, mit einem zwar immer wieder schwankenden Kurs, aber in der Tendenz ansteigend. Um in der Sprache der Wertpapieranalysten zu bleiben, könnte man sagen, dass wir gerade mitten in einer überaus heftigen Kurskorrektur sind. Allerdings kann kein Analyst vorhersagen, wie tief der Aktienkurs fallen wird, bevor es wieder zu einem Anstieg kommt.


Demokratie ist anstrengend und immer gefährdet


Demokratie zu leben ist nicht nur ein mühsam, langwieriges Geschäft, sondern auch energieaufwendig. Eben anstrengend und unbequem. Das weiß jeder, der demokratische Prozesse nicht nur moderieren soll oder muss, sondern auch auf bestimmte Ziele hin bewegen möchte. Also jeder engagierte Politiker. Demokratische Prozesse brauchen Zeit und vor allem Ausdauer der Handelnden. Das Ergebnis, sofern es überhaupt ein greifbares, sichtbares geben sollte, ist fast immer nur ein halbes, unfertiges, unbefriedigendes. Trotz dieser "Mühen der Ebene" im politischen Alltag haben manche der Akteure die Ideale ihrer Jugend nicht verloren, was durchaus Wertschätzung verdient. Was ihrem Überleben als homo politicus geholfen haben wird ist möglicherweise jene Eigenschaft, die Winston Churchillfür eine unverzichtbare gehalten hat, nämlich "...von einem Scheitern zum nächsten zu schreiten, ohne den Enthusiasmus zu verlieren".


Wenn eine Gesellschaft wohlhabend, oder sogar reich ist und keine existentiellen Bedrohung sicht-, oder spürbar ist, sind die Langwierigkeit dieser politischen Prozesse und die Mangelhaftigkeit der Ergebnisse kein ernstliches Problem. Man hat dann Zeit und Muße, dem politischen Treiben zuzusehen, sich vielleicht auch darüber hin und wieder zu mokieren, zu kritisieren. Das kann das von der Galerie zusehende Publikum unterhalten, dient dem Zeitvertreib. Damit ist aber bald Schluss, wenn's ans "Eingemachte" geht, ans Existentielle in Krisenzeiten. Dann kann sehr schnell das Parlament als "Quatschbude"diffamiert und der Ruf nach dem "starken Mann" laut werden oder davon gesprochen werden, wie handlungsfähig Diktaturen seien - die dann natürlich so nicht bezeichnet werden - nämlich rasch und konsequent. Man denke z.B. an die Bewunderung so mancher Politiker am Beginn der Corona-Pandemie dafür, wie erfolgreich die Festlandchinesen das Virus bekämpft hätten. Wie erfolgreich, konnte man erst kürzlich verfolgen, als dort wieder einmal Häfen und Stadtbezirke komplett abgeriegelt wurden.


Das Weltbild vor Beginn der Moderne war relativ einfach und eng, man wusste wenig über sich selbst, die anderen und die Welt. Da hatten es Autokraten leichter sich lebenslang an der Macht zu halten. Und wenn das ihnen nicht gelang, so wurden sie doch wieder durch Gleichgesinnte ersetzt. Nur wenige wussten, dass es auch anders gehen könnte, die Beherrschten hielten alles für festgefügt und gottgewollt, sie waren gut lenkbar. Hauptsache, man hatte zu essen und wurde vor dem Überfall des buchstäblich hungrigen oder bloß machthungrigen Nachbarn geschützt.


Unsere moderne Welt - und damit auch unser Blick auf sie - ist jedoch komplex und unübersichtlich geworden. Komplexe Systeme sind nicht steuerbar ihre Entwicklung nicht vorhersehbar. Man kann sie aber - wie alles Lebendige - zerstören. Das gilt gleichermaßen für "die Natur", deren Zerstörung wir noch immer erfolgreich betreiben, wie auch für menschliche Gesellschaften. Deshalb können Autokraten Demokratien leicht zerstören und auch kurzfristig in gewissen Bereichen erfolgreich handeln.


Autokratien haben aber ein Ablaufdatum, denn à la longue stirbt ihnen unter ihren grob zupackenden Händen alles Lebendige ab und sie verschwinden im Orkus. Das kann allerdings lange dauern, viel zu lange für ein kurzes Menschenleben. Auch ist die Wahrscheinlichkeit klein, dass sie gleich anschließend, nach ihrem mehr oder weniger gewaltsamen Abgang, von lupenreinen, liberalen Demokraten abgelöst werden.


Aber auch Demokratien haben, wie es scheint, ihr Ablaufdatum, allerdings aus anderen Gründen. Sie kommen ins Trudeln, wenn die Zeiten schlecht werden. Dann wählen diejenigen denen es schlecht geht und jene, die um ihr fortgesetztes Gutgehen fürchten die Antidemokraten. Also ist die Demokratie wahrscheinlich doch ein Schönwetterprogramm, dass sofort abgesagt wird, wenn Krisen drohen? Es sieht jedenfalls ganz danach aus.


Allgemeiner Wohlstand ist eine wesentliche Voraussetzung für das Gelingen von Demokratie


"Geht's der Wirtschaft gut, geht's uns allen gut" lautete einst eine Kampagne der Wirtschaftskammer Österreich. Das stimmt so natürlich ganz und gar nicht. Man muss den Slogan eher umdrehen, damit er passt und sagen: "wenn's uns allen gut geht, wird's auch der Wirtschaft gut gehen". Und ich ergänze, dass es der Demokratie nur dann gut gehen wird, wenn's uns allen gut geht, denn das Wohlergehen aller ist eine notwendige Voraussetzung für das Gelingen von Demokratie, allerdings nicht eine hinreichende. Dazu bedarf es auch weiterer Voraussetzungen, wie der aktuelle Erfolg autoritärer Parteien in "Wohlstandsdemokratien" beweist.


Wut, Furcht und Angst


Wir sehen in diesen Tagen viel Wut. Wut auf den Straßen, nicht nur in Paris, sondern auch bei uns - man denke nur an die "Corona-Demonstrationen" der Maßnahmengegner. Wut in den sozialen Medien - die man geneigt ist, eher als asoziale Medien zu bezeichnen - Wut in der Wahlzelle. Wut auf die da oben, die Bürokraten in Brüssel, auf unfähige, korrupte Politiker, auf die abgehobenen Eliten.


Wir sehen aber nicht nur Wut, sondern auch viel Furcht. Furcht vor der neuen, großen Völkerwanderung - gegen die auch "geschlossene Balkanrouten" nicht helfen können. Furcht vor der unabwendbaren Klimakatastrophe. Und schließlich vor der Digitalisierung, welche alle Lebensbereich durchdringen wird und gerade im Begriff zu sein scheint, die Gottgleichheit des Menschen, nämlich seine Fähigkeit zur Kreativität, nicht nur nachzubilden, sondern vielleicht zu ersetzen. Wo aber so viel Furcht, da wuchert schlussendlich die Angst vor der Zukunft als diffuse Grundierung unseres Weltgefühls. Rat- und Hilflosigkeit sowie auch Ohnmachtsgefühle breiten sich wie schleichendes Gift in der Gesellschaft aus.


Die Geschwindigkeit der Veränderungen überfordert, Zeit für Reflexion und Analyse ist nicht gegeben. Die Flut an Informationen überschwemmt unsere Aufnahmefähigkeit. Was heute gilt, ist schon morgen überholt, das Bild von der Welt zersplittert in tausend Scherben, Homogenität und Konsistenz ist nur mehr über Verweigerung herstellbar. Kaum jemand glaubt noch an die Gestaltbarkeit der Welt, am wenigsten scheinbar unsere Politiker. Unsere Psyche sucht nach Entlastung von Überforderung. Apokalyptiker haben Hochsaison - und Populisten.


Berechtigte Kritik und Populisten


Man kann schwerlich übersehen, dass es, abseits politischer Polemik, gute Gründe für berechtigte Kritik an der Verfasstheit unserer Parteiendemokratie gibt. Ganz allgemein und vereinfachend gesprochen, ist eine zunehmende Distanz zwischen "Volk" und "Politik", zwischen Repräsentierten und Repräsentanten zu beobachten. Früher waren die Parteien in der Bevölkerung wesentlich stärker verankert. Sie hatten eigene, ihnen zugeordnete Zeitungen, die Kommunikation, zumindest auf den unteren Ebenen, der Austausch zwischen Funktionären und Wählern bzw. Parteimitgliedern, war relativ direkt. Z. B. ging der Kassierer von Tür zu Türe, um die Mitgliedsbeiträge einzuheben und ließ sich gerne in politischen Small Talk verwickeln. Das ist inzwischen aus vielen Gründen Folklore und hat sich wesentlich verändert. Heute wird dieser Austausch von Spin-Doktoren und PR-Experten bestimmt. Das ist auch kaum vermeidbar, denn die Vermittlung der Entscheidungsprozesse in einer unübersichtlich gewordenen Mehr-Ebenen-Demokratie ist kaum mehr möglich. Verantwortlichkeiten, sowohl in positiver als auch negativer Hinsicht, sind nur mehr schwer auszumachen. Diese verlieren sich in der engen Verflechtung von Beziehungen zwischen Gemeinden, nationalen und internationalen Interessensverbänden, Ländern, Nationalstaaten und den Institutionen der Europäischen Union. Plastisch sichtbar wird diese strukturelle Problematik, wenn Politiker auf EU-Ebene Entscheidungen nationaler Tragweite mittragen, um dann zu Hause genau diese "in Grund und Boden" zu verdammen. Die Verkoppelung des System politischer Entscheidungsfindung mit der Bevölkerung, das Gleichgewicht ist gestört. Hier klafft eine Bruchstelle der repräsentativen Demokratie auf, in die populistische Gruppierungen erfolgreich hineinstoßen und die Entfremdung weiter verstärken.


Sprache und Strategien der Populisten


Dort wo der Eindruck vorherrscht, dass sich die Balance zwischen Politik und Volk zugunsten der repräsentativen Institutionen verschoben hat, trifft die Sprache der Populisten auf offene Ohren. Sie reden vom "kleinen Mann" (wieso nicht "Frau"?), von denen da "oben" und "wir" (die natürlich "unten" sind), den "abgehobenen Eliten" und den "einfachen Leuten". Und alles immer mit großem Ausrufezeichen! Man kennt das hierzulande zur Genüge, hier, im bewährten Versuchslabor des gewalttätigen Extremismus, wo die Welt schon einmal erfolgreich den Untergang geprobt hat.


Die Rhetorik der Populisten arbeitet mit scharfer Abgrenzung, spricht immer von "uns" und den "anderen". "Wir" sind natürlich immer "das Volk". In diesen Homogenisierungsbehauptungen werden alle sozialen, politischen, ökonomischen und kulturellen Unterschiede eingeebnet. So kann dann voller Berechtigung im Namen der Mehrheit gesprochen werden - die natürlich eine "schweigende" sein muss - trotzdem die mediale Verbreitung der immer wieder gleichen Argumente jener behaupteten "schweigenden Mehrheit" in der Regel beachtlich ist. Ganz abgesehen von deren Lautstärke in den virtuellen Bierzelten eifrig bespielter sozialer Medien.


Erfolgreich können Populisten sein, weil sie, die latente Wut nutzend und kanalisierend, den Ohnmachtsgefühlen Ziele und einfache Lösungen anbieten können. Sie arbeiten immer mit Komplexitätsreduktion und bieten damit psychologische Entlastung in einer unübersichtlichen, undurchschaubar komplexen Welt. Es ist auf einmal alles einfach und klar. Die Ausländer sind schuld, oder die internationalen, raffgierigen Pharmakonzerne, oder das Finanzkapital, das selbstverständlich ein internationales sein muss (schon wieder von der Ostküste?), oder der Kapitalismus schlechthin. Und so weiter, und so fort.


Die "Wahrheit" spielt in den Argumentationsfiguren der Populisten eine große Rolle. Sie ist immer einfach zu verstehen, unterkomplex und von Gewissheit getragen. Wer sie hat, durchschaut alles und weiß daher, was zu tun ist. Wenn es allerdings darum geht zu erfahren, wie denn die Zukunftskonzepte aussehen - wenn das einmal tatsächlich nicht mehr da sein sollte, was unbedingt weg müsse, damit alles endlich gut werde, - da wird es dürftig und nebulos. Das hat gute Gründe. Populisten treffen mit ihrer Kritik oft tatsächliche Missstände, zu deren Wahrnehmung es keiner tiefschürfenden Untersuchungen und Analysen bedarf. Sie setzen auch keinesfalls Missstände auf ihre Agenda, die nicht offensichtlich allgemein und für alle Betroffenen wahrnehmbar sind. Man weiß daher sofort, wovon gesprochen wird, viel Erklärungs- und Darstellungsaufwand ist nicht erforderlich. Der wahre Populist ist nicht an der Zukunft interessiert. Und wenn er es glaubt - oder vorgibt, es zu sein - so verwendet er zumeist Bilder einer imaginierten Vergangenheit oder alter Utopien, wie etwa die der heilen Familie und homogenen "Volkskultur", oder, im anderen politischen Spektrum, die Vision einer gleichfalls wieder homogenen Gesellschaft, in der alle sozialen Unterschiede aufgehoben sind und alle Bürger in freier Entfaltung ihrer individuellen Talente friedlich - und natürlich im Wohlstand - zusammenleben. Das klingt vielen verführerisch und Populisten kamen und kommen daher tatsächlich immer wieder an die Macht. Dort angekommen, gibt es für sie jedoch nur zwei Optionen: Die einen, nennen wir sie "die Zyniker", vergessen rasch ihre großartigen Versprechungen und betreiben Real- und Machtpolitik - gewöhnlich zu ihrem eigenen Vorteil. Andere wieder, "die idealistischen Visionäre", versuchen ihre programmatischen Vorstellungen umzusetzen und führen ihr Land über kurz oder lang ins ökonomische und soziale Abseits. Die Liste dieser gescheiterten Versuche ist lang.


Im Grunde stehen alle populistischen Strömungen im Widerspruch zur Idee einer hochgradig ausdifferenzierten, heterogenen Gesellschaft, da sie vom Phantasma einer organischen Einheit des politischen Gemeinwesens ausgehen. Daraus erklärt sich auch ihr mangelnder Respekt gegenüber den Regeln konstitutioneller Kontrollen und Balancen, gegenüber der Gewaltenteilung, ihr Misstrauen gegenüber allen Einrichtungen, die institutionelle Unabhängigkeit besitzen, wie etwa Verfassungsgerichteund die freie Presse. Sie reklamieren alle Macht für das Volk, dessen Willen sie bloß vollzögen.


Kann man den Vormarsch der Populisten aufhalten?


Manche meinen, man könne die Populisten ruhig einmal an die Schalthebeln der Macht heranlassen. Dann werde ohnehin schnell offenbar werden, wie ungeeignet ihre einfachen Patent-Rezepte seien, sich in einer komplexen Gesellschaft mit den versprochenen Ergebnissen umsetzen zu lassen. Das werde auch bald ihren Anhängern klar werden, die sich schon bei der nächsten Wahl enttäuscht abwenden würden. Oder sie passten sich, einmal in der Regierung angekommen, elastisch den gegebenen politischen Realitäten an und vergäßen rasch ihre kämpferischen Ankündigungen aus Vorwahlzeiten. Auch diese Variante führe zum gleichen Ergebnis des raschen Endes ihrer spektakulären Wahlerfolge. Diese Erwartungen haben zwar einiges für sich, gehen aber davon aus, alle Populisten würden sich auch im Abstiegsszenario an die demokratischen Spielregeln halten. Das könnte sich als fatale Illusion herausstellen, denn die heutigen technischen Möglichkeiten zur Kontrolle und Manipulation der Bevölkerung machen es für die einmal an die Schalthebeln staatlicher Macht Gelangenden ungleich leichter als früher, Kritik und Opposition auszuschalten und die demokratischen Institutionen zu beseitigen. Das kann rasch gehen. Die jüngste Geschichte kennt genügend Beispiele.


Bildung als eine weitere, grundlegende Voraussetzung für das Gelingen von Demokratie


Was also ist zu tun, müssen wir uns mit dem Erfolg populistischer Bewegungen abfinden? Ich denke, vorerst einmal, ja. Zu lange, allzu lange wurde es verabsäumt, zumindest hierzulande, in die zweite, wesentliche Voraussetzung für das Gelingen von Demokratie zu investieren, nämlich in die möglichst umfassende Allgemeinbildung der Bevölkerung. Wir sollten uns nicht wundern über das Ausmaß von Wissenschaftsferne und funktionalem sowie strukturellem Analphabetismus in unserer Gesellschaft. Das hat zwar zum Teil historisch-kulturelle Gründe (endemischer Autoritarismus, wissenschaftsfeindlicher Katholizismus...), ist aber vor allem dem Beharrungsvermögen der bestimmenden politischen Kräfte geschuldet. Nach wie vor entscheidet die Herkunft maßgeblich über den Bildungsweg.


Die wissensbasierte, aktive sowie passive Teilhabe an demokratischen Entscheidungsprozessen ausdifferenzierter moderner Gesellschaften setzt ein fundiertes, umfassendes Basiswissen und Verständnis für komplexe Strukturen voraus. Es reicht nicht, fehlendes Grundwissen bei "Professor Google" nachzufragen. Man muss auch in der Lage sein, widersprüchliche Informationen einzuordnen, vor allem aber sie auch auszuhalten. Lesen, Schreiben und Rechnen mag früher einmal ausreichend gewesen sein, aber selbst das möchte ich anzweifeln.


Was aber, wenn "ein voller Bauch" und ein hohes Maß an allgemeiner Bildung nicht ausreichen sollten, Bürger davon zu überzeugen, dass es zur Demokratie in modernen, entwickelten Gesellschaften keine sinnvolle Alternative gibt? Es sind ja nicht nur Ungebildete und sozial Abgehängte, welche populistische Strömungen unterstützen.


Demokratie muss - so wie alle Kulturtechniken - erlernt werden


Demokratie zu leben ist ein mühsames, langwieriges Unterfangen. Entscheidungsprozesse gehen oft verschlungene, scheinbar verworrene Wege, um dann am Ende zu Ergebnissen zu führen, die niemanden wirklich zufrieden zu stellen scheinen. Kompromisse begeistern nicht, sind aber wesentlich, damit alle Betroffenen sich darin zumindest teilweise wiederfinden können. Es gehört auch die Bereitschaft dazu, manchmal das Allgemeininteresse über das eigene stellen zu können. Wirklich attraktiv klingt das nicht. Wir machen aber vieles, was unangenehm ist, manchmal aus höherer Einsicht in die Notwendigkeit, oft aber schlicht deshalb, weil wir durch Erziehung daran gewöhnt sind. Genauso ist es mit der Demokratie. Sie ist im Wesentlichen eine Kulturtechnik, die gelernt werden muss. In der Familie, im Kindergarten, in der Schule und am Arbeitsplatz. Erst dann, wenn ihre Techniken Selbstverständlichkeiten geworden sind, die nicht weiter begründet werden müssen, wenn gleichsam ein demokratischer Habitus die Bürger eint, werden wir in der Demokratie angekommen sein. Das kann allerdings dauern.


In diesen Tagen, während 600 km entfernt mit Feuer und Schwert die aufkeimende Demokratie in der Ukraine vernichtet werden soll, gehen ihre Feinde bei uns, solange sie nicht an den Schalthebeln der Macht sitzen, langsamer vor. Sie halten sich an den bekannten Leitsatz Mussolinis: "Die Demokratie beseitige man, wie man ein Huhn rupft: Man reiße ihm eine Feder nach der anderen einzeln aus, dann bemerkt es nicht, dass es nackt ist". Angesichts der Bilder von freundschaftlich ausgetauschten Umarmungen mit den Melonis und Orbáns dieser Welt und KicklsBrandreden im Goebbels'schen Tonfall ist es hoch an der Zeit, diesen antidemokratischen Kräften entschieden entgegenzutreten. Nur resignierend zuzuschauen darf keine Option sein.

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