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Grenzen - Fluch oder Segen? (24. August 2024)

Als in den 1970er-Jahren der bundesdeutsche Barde Reinhard Mey sehnsuchtsvoll sang "…über den Wolken muss die Freiheit wohl grenzenlos sein…", war Pilot zu werden noch Stoff für Bubenträume. Der Kalte Kriegdurchschnitt mit Stacheldraht und Minenfeldern Europa und am Eisernen Vorhang scheiterten die Freiheitsträume vieler, die aus jenem Paradies der Werktätigen flüchten wollten, von dem der amerikanische Präsident Ronald Reagan als dem "Reich des Bösen" sprach.


Grenzen zu überwinden war das Motto, welches über der Aufbruchsstimmung stand, die jenen expansiven Elan beflügelte, der dem westorientierten Teil Europas eine mehr als ein halbes Jahrhundert währende Epoche zunehmenden Wohlstands und Friedens bescherte. Die Grenzen zwischen einst verfeindeten Nationen fielen, Urlaub in fernen Ländern zu machen, einst ein Privileg oberer Stände, wurde Allgemeingut. Jugendlichen schenkten ihre Eltern ein Interrail-Ticket zum Aufbruch ins Unbekannte Fremde, eine Eintrittskarte in grenzenlose Freiheit.


Grenzenloses Wachstum, "Besser, Höher, Weiter" war nicht nur für Sportler die Devise. Eine Flut von Ratgeber-Literatur entstand, um die Chancen glücklich zu werden, die Kommunikationsfähigkeit, die Gedächtnisleistung, oder die Brustmuskulatur zu vergrößern. Leistungsfähigkeiten zu steigern, egal ob die von Volkswirtschaften, Weitspringern oder Automotoren, war zum unbestrittenen Axiom einer rasant sich höher entwickelnden westlichen Zivilisation geworden. Formulierte anno 1918 noch Wittgensteindas Schweigegebot für alles wofür es keine Sprache gebe, so galt das neue Schweigegebot für alles, was nicht messbar war. Das Unmessbare interessierte nicht mehr. Die nackte Zahl war zum Götzen von Wirtschaftstreibenden, Politikern und Wissenschaftsrankings geworden, die Qualitäten in Quantitäten messen wollten. So dürfen wir uns nicht darüber wundern, welch großen Stellenwert der Sport in der öffentlichen Wahrnehmung eingenommen hat. Waren in den 1960ern noch Fernsehkrimis Straßenfeger, so sind das aktuell Fußball-Großereignisse, deren Stars Millionengagen als Wochenlohn einstreifen.


Vor einem knappen Jahrhundert schrieb Robert Musil dazu damals wahrscheinlich übertrieben Erscheinendes, heute ist´s die visionär vorwegnehmende Beschreibung des herrschenden Zeitgeistes. Sein Romanheld Ulrich liest in einer Zeitung das Wort vom "genialen Rennpferd", woraus sich folgende Überlegungen entwickeln: "Sollte man einen großen Geist und einen Boxlandesmeister psychotechnisch analysieren, so würden in der Tat ihre Schlauheit, ihr Mut, ihre Genauigkeit und Kombinatorik sowie die Geschwindigkeit der Reaktionen auf dem Gebiet, das ihnen wichtig ist, wahrscheinlich die gleichen sein, ja sie würden sich in den Tugenden und Fähigkeiten, die ihren besonderen Erfolg ausmachen, voraussichtlich auch von einem berühmten Hürdenpferd nicht unterscheiden, denn man darf nicht unterschätzen, wie viele bedeutende Eigenschaften ins Spiel gesetzt werden, wenn man über eine Hecke springt. Nun haben aber noch dazu ein Pferd und ein Boxmeister vor einem großen Geist voraus, dass sich ihre Leistung und Bedeutung einwandfrei messen lässt und der Beste unter ihnen auch wirklich als der beste erkannt wird, und auf diese Weise sind der Sport und die Sachlichkeit verdientermaßen an die Reihe gekommen, die veralteten Begriffe von Genie und menschlicher Größe zu verdrängen".


Besser kann man es nicht sagen. Man könnte meinen, der Sport - vor allem der Leistungssport - sei zu unserer Leitkultur geworden. Wir bewegen uns nicht - wir trainieren! Überlastungsverletzungen gehören längst zum Alltag aller Leistungssportler, die Grenzen des Erreichbaren werden immer weiter hinausgetrieben. Doping gehört in weiten Bereichen des Sports zur Normalität - und da spreche ich nicht nur vom Sport professioneller Hochleister. Trotzdem stoßen wir in allen Disziplinen an Grenzen. Das treibt groteske Blüten, denn an den Grenzen drängen sich die Besten. 1000stel-Sekunden Unterschied entscheiden dann über Sieg oder Niederlage.


Wir sind als Spezies überaus erfinderisch darin, die von Natur uns gesetzten Grenzen zu überwinden. Freud nennt uns "Prothesengötter". Und tatsächlich haben wir es als Gattung weit gebracht in der Erfindung von leistungssteigernden Hilfsmitteln. Die Verschmelzung mit mechanischen, elektronischen und virtuellen Maschinen lässt manche Futurologen vom Übergang zum Homo Deus fantasieren. Ob allerdings unser Planet dann noch für alle bewohnbar sein wird, bleibt vorläufig eine offene Frage.


Wozu brauchen wir überhaupt Grenzen? Mit dem Begriff sind oft starke, ambivalente Gefühle verbunden; die Grenze lässt nicht kalt. In der Annäherung wachsen Anspannung und Beklemmung, ob die Überwindung gelingen wird, ja überhaupt, was uns erwartet im jenseitigen Unbekannten; ob wir es dort schaffen werden, den jetzt noch nicht sichtbaren Anforderungen genügen zu können? Diesseits sind wir im sicheren Raum, im Vertrauten, jenseits warten Unwissen, ja vielleicht auch Gefährdung. An der Grenze lauert Angst.


Zugleich lockt es, die Grenze zu überwinden, das noch Verborgene zu erfahren. Diese Lockung treibt uns an, drängt uns, den Schritt zu wagen. Über die Grenze zu gehen kann man lernen, muss man lernen, um sich als lebendiges Wesen zu entfalten. Man kann es üben, auch das Scheitern an der Grenze. Immer wieder, bis es dann endlich gelingt. Dann kann es allerdings sein, dass wir uns auf der anderen Seite umdrehen und fragen werden: "So what?" Wozu der große Aufwand, die Angst und Anstrengung, die vielen Versuche, so begehrenswert ist doch das Neue nicht. Es kann aber auch sein, dass die Anspannung vor dem entscheidenden Schritt sich danach in grenzenloser Euphorie löst. Ja, man kann es so nennen, denn das übersteigerte Größengefühl, wenn es denn endlich gelungen ist, vermag Schwung zu verleihen für ein ungebremstes, beschleunigtes, eroberndes Voranstreben ins neu aufgetane Gebiet.


Von diesem Größengefühl ist jedoch nichts vorhanden, wenn wir viel zu früh, hilflos und schwach, "auf die Welt" kommen, von Gottgleichheit ist da keine Spur zu sehen. Ohne Hilfe lebensuntauglich, ein langer Weg vor uns in vielen Entwicklungsschritten. Als Kinder müssen wir lernen, mit Grenzen umzugehen, vorerst einmal die eigenen Grenzen zu erfahren. Wenn unser Ich beginnt, sich im ersten Erleben der Differenz zwischen Innen und Außen heranzubilden, beginnen auch die ersten schmerzlichen Erfahrungen. Wir erleben, dass etwas zu begehren nicht reicht, es zu bekommen, es ein Außen gibt, das nicht mit unserem Innen ident ist. Der kleine Diktator in uns begegnet der Vertreibung aus dem Paradies seines glückseligen Eins-Seins in der Geborgenheit des mütterlichen Uterus mit hilflos, brüllender Wut. Noch weiß er nichts davon, dass sein Leben eine Kette solcher Grenzerfahrungen sein wird.


Gelingende Kindheit braucht aber auch Grenzen. Diese schaffen einerseits einen nach außen geschützten Raum für Entwicklung und andererseits ermöglichen sie, an ihnen zu lernen, sie zu überwinden, oder zu tolerieren. Auch um erfahren zu können, dass man auch einmal - auf gut wienerisch reaktionär gesagt - "am Watschenbaum rütteln" kann, ohne dass es das Leben oder die Liebe der Eltern kostet. Wer professionell mit Kindern zu tun hat, wird davon Geschichten erzählen können, was passieren kann, wenn Kindern nicht Grenzen gesetzt werden. Nicht zuletzt im Empören und Aufbäumen gegen die Erwachsenenwelt üben sie Widerstand und sammeln Kräfte, sich nach und nach gesund von uns lösen zu können. Ihr Wachstum erfolgt nicht in einem gleichmäßigen Kontinuum, sondern oft in Schüben. Wir sehen das, wenn sie ihre Krisen durchleben und daran leiden - und wir mit ihnen und dabei auch oft genug an ihnen. Wenn´s dann allerdings endlich vorbei und ausgestanden ist, können wir uns an ihrem Wachstum erfreuen - zumindest manchmal.


Grenzen sind aber nicht nur für die Entfaltung von Individuen, sondern auch für jene von Gemeinschaften aller Art notwendig. Formelle und informelle Regeln gestalten und beschränken zugleich die Interaktionen innerhalb von Gesellschaften. Sie wirken nach außen abgrenzend wie auch nach innen identitätsbildend. Unser tribalistisches Erbe ist, trotz aller zivilisatorischen Errungenschaften, nach wie vor tief in uns verankert. Sichtbar wird das nicht nur in Fußballstadien, wenn nationalistische Fangemeinschaften fahnenschwingend und Hassgesänge grölend, sich - zumindest in Worten und martialischen Gesten - bekriegen und bei Erfolgen triumphierend aufschreien. Groteskermaßen, denn in ihren Mannschaften hat die Internationale des Profisports mit Angehörigen anderer Nationalitäten und Hautfarben längst Einzug gehalten.


Kürzlich war in einer Tageszeitung ein Bericht über die Tanzperformance "Spiegelneuronen" bei den Salzburger Festspielen zu lesen. Ihr tragendes Thema ist das naturwissenschaftliche Konzept über die Funktionen jener Nervenzellen, die angeblich für unsere Empathie verantwortlich sein sollen und auch dafür, ob wir etwas nachmachen - oder auch nicht. Das Publikum schaut auf eine Bühne, die mit einem Spiegel abgeschlossen wurde, sieht vorläufig daher nur sich selbst, weit hinten in den letzten Reihen oder ganz nahe , wenn vorne sitzend. Zeitweise wird der Spiegel matt oder Projektionsfläche, dazu werden Stimmen von Neurowissenschaftlern, Soziologen und Psychologen hörbar, die über unsere empathische Verbindung zu Mitmenschen, Gemeinschaftsgefühle und die Veränderung westlicher Demokratien, hin zu einer Art von "Emokratie"sprechen. Politisches Handeln werde nicht nur überwiegend von Internationalität, rationalen Kalkülen und Interessensausgleich bestimmt, sondern Appelle an das "Wir gegen die Anderen" gewönnen zunehmende Bedeutung im gesellschaftlichen Diskurs. Dazu ist Musik zu hören, einzelne aus dem Publikum beginnen den Rhythmus mitzuklopfen, hin und wieder steht jemand auf und schwingt die ausgestreckten Arme im Takt, manche wagen sogar ein paar Tanzschritte, die Lichtpunkte hochgehaltener Handys bewegen sich im Zuschauerraum. Skeptisch gebliebene Zuschauer gibt es viele, gekommen, um nur zuzusehen und zuzuhören. Sie bleiben unbewegt sitzen, irritiert bis amüsiert sich im Zuschauerraum umsehend. Für die meisten bleibt es aber nicht dabei, denn am Ende der 90minütigen Performance stehen fast alle 400 und bewegen sich im Rhythmus der den ganzen Raum umfassenden Musik.


Am Ende der Vorstellung ist klar geworden, dass sich vom Beginn an Mitglieder der Tanzkompagnie unter das Salzburger Festspiel-Publikum gemischt hatten, um die Initialzündung auszulösen. Ohne diese wäre es bei einer vielleicht etwas allzu belehrenden Darbietung geblieben. So aber wurde es zu einem Gemeinschaftserlebnis jener Art, wie es in primitiven Stammesgesellschaften oder in tanzend singenden Fangemeinschaften auf Popfestivals vor Großbühnen in Fußballstadien zu finden ist.


Die Grenzen zwischen den einzelnen Individuen fallen, alle vereinen sich letztlich, manche vorerst nur zögerlich ihre Individualität verlassend, im beglückenden Rausch des Gemeinschaftsgefühls. Wir sind also vielleicht doch nicht so weit entfernt von unseren singend und stampfend ums Lagerfeuer tanzenden, aus heutiger Sicht primitiven urzeitlichen Vorfahren, die noch keine Worte hatten zur Unterscheidung von Ich und Gesellschaft. Heute fallt nur mehr selten diese trennende Grenze, manchmal auf Popfestivals, manchmal sogar beim bildungsbürgerlichen Publikum der Salzburger Festspiele.


1969 veröffentlicht Elias Canetti sein philosophisches Hauptwerk "Masse und Macht" in dem er seine Erlebnisse mit dem Faschismus in den 1920iger- und 30erJahren verarbeitete. Er wird 1927 beim Wiener Arbeiteraufstand als Unbeteiligter vom Strom der Demonstranten mitgerissen und schreibt darüber "…die Erregung dieses Tages liegt mir noch immer in den Knochen. Ich wurde zu einem Teil der Masse, ich ging vollkommen in ihr auf, ich spürte nicht den leisesten Widerstand gegen das , was ich unternahm." Canetti hatte erkannt, dass - in seinen Worten - "es im Menschen einen Massentrieb gibt, der im Widerstreit zum Persönlichkeitstrieb steht."


Das Konzept der Spiegelneuronen unternahm den Versuch, für das Funktionieren von Empathie eine naturwissenschaftliche Antwort zu liefern, konnte aber in weiterführenden Forschungen nicht bestätigt werden, der Ansatz war wohl allzu mechanistisch gedacht. Rätselhaft bleibt nach wie vor, was uns dazu treibt, die Begrenzung des Ichs zu verlassen, um lustbetont und ichverloren in Gemeinschaften aufzugehen. Beunruhigen sollte uns, dass die Lockungen des Gemeinschaftserlebnisses gleichermaßen zu begeistert händeschwingenden Fans bei Taylor-Swift-Großkonzerten wie auch geradewegs in den Faschismus führen können.

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