top of page

Israel - Ein Versuch, zu verstehen (15. Oktober 2023)

1926 fährt der 21-jährige begeisterte sozialistische Zionist Arthur Koestler nach Palästina, um dort in einem Kibbuz zu leben, den er einige Monate später enttäuscht verlasst, um in Haifa als Journalist zu arbeiten. 1945 schreibt er in Jerusalem, ganz unter dem Eindruck der gerade bekannt gewordenen Gräuel von Ausschwitz und Bergen Belsen stehend, den Roman "Diebe in der Nacht", in dem er seine israelischen Erfahrungen verarbeitete.


Der Held des Romans Joseph, ein junger, gebildeter englischer Halbjude, sucht 1937 in Palästina eine neue Heimat. Er findet Aufnahme in einem frisch gegründeten Kibbuz, mitten in öder Wüstenlandschaft, die in ausdauernd, mühsamer Arbeit in fruchtbares Ackerland verwandelt wird, erlebt die Gefährdung durch Terrorakte aus umgebenden arabischen Dörfern sowie den Gegenterror militanter jüdischer Gruppen. In einem Kapitel beschreibt er das Ankommen einer Gruppe von Jugendlichen, die im Kibbuz als neue Mitglieder aufgenommen werden sollen:

"Es ist nicht das erste Mal, dass mich unsere neue Generation erschreckt. Diese fünfundzwanzig Halbwüchsigen beiderlei Geschlechts sind ziemlich typisch; sie sind alle Sabras - im Lande geboren und erzogen…..Ich beobachte sie, seit sie angekommen sind - diese kleinen stämmigen Mädchen mit den etwas groben Zügen,….physisch überentwickelt, geistig zurück…und diese ungehobelten Burschen,… mit ihrem aggressiven Lachen... Ihre Eltern gehörten der weltbürgerlichsten Rasse der Welt an - siesind provinzlerisch und chauvinistisch. IhreEltern waren empfindsame Nervenbündel mit unbeholfenen Körpern - ihre Nerven sind wie Peitschenstränge und ihre Körper die einer Horde hebräischer Tarzans, die durch die Hügel Galiläas streifen…..Ihre Eltern waren notorisch vielsprachig - sie wurden in einer Sprache aufgezogen, welche zwanzig Jahrhunderte überwintert hatte, bevor sie wieder künstlich zum Leben zurückgebracht worden ist… diese junge Generation wurde…aufgezogen…. mit der flüchtigsten Kenntnis der Weltliteratur und der europäischen Geschichte ……Dagegen wissen sie alles über Düngemittel und Bewässerung und Fruchtabfolgen; sie kennen die Namen der Vögel und Pflanzen und Blumen; sie verstehen zu schießen und fürchten weder Araber noch Teufel. Mit anderen Worten, sie haben aufgehört, Jude zu sein, und wurden hebräische Bauern."


Was Koestler hier beschreibt, ist die Entwicklung, hin zu einem Menschenschlag, der im Stande war, sich in einer latent, aber auch oft explizit feinseligen Umwelt nicht nur zu behaupten, sondern auch Raum für sich zu gewinnen; Raum, durchaus auch im nicht übertragenen Sinn. Mit diesen wehrhaften jungen Leuten konnte es gelingen, einem Volk ohne Land, eine nationale Heimstätte zu schaffen und dafür zu kämpfen. Die Eltern nannten ihre in Palästina geborenen Kinder "Sabras". Die "Sabra" ist eine zähe, dornenbewehrte Wüstenpflanze mit dicker Schale und süßem Kern.


Der Nahe Osten ist nicht zufällig die Geburtsstätte von 3 Weltregionen. An der Nahtstelle dreier Kontinente liegend, durchzogen von verbindenden Handelsrouten, hat diese Region aufgrund ihrer zentralen Lage überdurchschnittlich viele Invasionen erlebt. Griechen, Römer, Araber, Kreuzritter, Seldschuken, Timuriden und Mongolen eroberten und verloren das Land. Kaum eine andere Stadt wurde in ihrer Geschichte so umkämpft, wie Jerusalem. Die Stadt wurde 2-mal komplett zerstört, 23-mal belagert, 44-mal erobert und 52-mal angegriffen. Unaufhörliche Fehden zwischen rivalisierenden Scheichs und häufige Einfälle von Nomadenstämmen aus der Wüste zwangen immer wieder die wenigen verbliebenen Bauern zur Flucht in die Berge oder zum Verlassen des Landes. Mühsam kultiviertes Land verschwand ebenso rasch wie es langsam geschaffen worden war, Wüsten blieben zurück; so etwas wie eine nennenswerte, autochthone Bevölkerung konnte sich nicht entwickeln.


Juden haben die Bindung an ihr geschichtliches Heimatland über mehr als dreieinhalb Jahrtausende hinweg bewahrt. Trotz ihrer Zerstreuung in der Diaspora, haben sie die Sprache der Urväter und eine klar unterscheidbare Kultur erhalten, was sie fast zwangsläufig zu fremd Bleibenden in ihren Aufnahmeländern machte. Auch nach der Eroberung des Landes durch die Römer verblieben Juden, trotz zeitweiliger Verfolgung und Versklavung im Land und gründeten Siedlungen, wie etwa Gaza, Safed, Hebron und an vielen anderen historischen Stätten, auch kommt es im Mittelalter zu weiterer Einwanderung. Ab ca. 1880 nimmt der jüdische Zuzug, angetrieben durch die zionistische Bewegung, stetig zu, sollte sich aber erst nach 1918 deutlich beschleunigen.


Im ersten Weltkrieg versprechen die Briten den Arabern - um ihre Unterstützung im Kampf gegen die Achsenmächte zu erhalten - nach dem Sieg über die Osmanen, Unabhängigkeit in einem nationalen Staat. Desgleichen soll für die Juden in Palästina eine "nationale Heimstätte" geschaffen werden (Balfour-Deklaration von 1917). Die Araber verbünden sich und kämpfen Seite an Seite mit den Briten gegen die Türken. Was sie jedoch nicht ahnen ist, dass die Franzosen und Briten schon vor diesen Vereinbarungen die Kriegsbeute unter sich verteilt hatten (Sykes-Picot-Abkommen 1916). Für einen arabischen Staat war da nichts vorgesehen.


Bis zum Ende des 1. Weltkriegs wurde das langsame Wachsen des jüdischen Bevölkerungsanteils in Palästina von den Arabern nicht als Bedrohung ihrer eigenen Bestrebungen nach nationaler Unabhängigkeit wahrgenommen. Man kannte sich als Nachbar, war auch befreundet. Die Juden trugen mit Fleiß, Initiative und westlichem Knowhow wesentlich zum wirtschaftlichen Aufschwung der überwiegend aus Wüsten, Malaria-Sümpfen und karger, erodierter Hügellandschaft bestehenden Region Palästina bei, was in der Folge auch für eine beträchtliche Einwanderung von Arabern aus benachbarten Ländern sorgte. Sie wurden von den höheren Löhnen angezogen wurden, die Juden zahlten.


Nach Kriegsende, am Rand der Pariser Friedenskonferenz, treffen sich 1919 Emir Feisal als arabischer Vertreter und der Zionistenführer Chaim Weizmann und schließen einen Freundschaftsvertrag ab: Die Araber akzeptieren einen Judenstaat in Palästina, unter der Voraussetzung, einen eigenen Nationalstaat von den Siegermächten zugesprochen zu bekommen.

Dann kommt es aber ganz anders. Die Franzosen erhalten die Kolonien Syrien und den Libanon, die Briten den Irak und Palästina, mit dem expliziten Auftrag des Völkerbundes, hier die versprochene "Nationale Heimstätte der Juden" (Balfour-Deklaration, 1917) zu errichten. Die Araber gehen leer aus, vom versprochenen Nationalstaat ist nicht mehr die Rede.


Als die Araber erkennen müssen, das sich ihre Hoffnungen auf nationale Souveränität nicht erfüllen, kommt es zur Explosion. Der wütende Feisal, sonst immer von ausgesucht orientalischer Höflichkeit, widerruft empört den Freundschaftsvertrag mit den Juden und wird, ohne Einverständnis der Franzosen, vom "Syrischen Nationalkongress" zum König von Syrien ausgerufen. Fanatisierte Muslime dringen, "Tod den Juden!" und "Lang lebe König Feisal!"rufend, mordend und brandschatzend, in das jüdische Viertel Jerusalems ein. Die Britischen Soldaten sehen tatenlos dem Pogrom zu. Drei Monate später vertreiben die Franzosen König Feisal aus Damaskus.


1921 besucht der Kolonialminister Winston Churchill Palästina. Er sieht die gefährliche Frustration der Araber, die sich mit Berechtigung betrogen fühlen. Als Kompensation und zur Beruhigung der aufgeheizten Stimmung, ernennen die Briten Feisalund seinen Bruder zu Herrschern in ihren Mandatsgebieten. Feisal wird König des Irak. Palästina wird entlang des Jordan im Verhältnis 4:1 geteilt. Im größeren, östlichen Teil wird Abdullah das Emirat Transjordanien regieren, Juden dürfen sich nur mehr im kleineren westlichen Teil, der unter britischer Verwaltung bleibt, ansiedeln. Von da an entwickelt sich der Konflikt zwischen Juden und Arabern mit der verhängnisvollen, unabänderlichen Mechanik einer griechischen Tragödie.


Der 1901 gegründete "Jüdische Nationalfond" kauft Land für die zunehmend ins Land kommenden Juden; Acker für Acker, Haus für Haus. In den verschiedenen Einwanderungswellen dieser Periode kamen viele sozialistisch geprägte Revolutionäre, überzeugt von der Gleichberechtigung der Frauen, beseelt von den Ideen radikaler Gütergemeinschaft und sozialer Gleichheit, die in der Kibbuz-Idee ihre konkrete Ausformung fanden. Es kamen aber auch viele Juden der polnischen Mittelschicht ins Land, auf der Flucht vor antisemitischen Ausschreitungen, die wesentlich zum industriellen, wirtschaftlichen und kulturellem Aufschwung ihrer neuen Heimat beitrugen.


Es ist so etwas wie ein Einbruch der Europäischen Moderne, mit allen ihren revolutionären, säkularen und demokratischen Ideen in eine völlig verarmte, von feudalen, patriarchalen Verhältnissen und archaischer Religiosität geprägte Gesellschaft; ein "Clash of Cultures", der unweigerlich zu schweren Konflikten führen musste.


Die nachfolgende Periode bis zur Staatsgründung Israels 1948 ist ein dreißigjähriger Bürgerkrieg mit zahllosen Pogromen und Überfällen auf die anfangs nahezu wehrlose jüdische Bevölkerung. Verstärkt durch weitere Einwanderungswellen und Gründung paramilitärischer, mit ins Land geschmuggelten Waffen ausgerüsteter Milizen (die Briten verbieten deren Bewaffnung), kann sie sich jedoch immer erfolgreicher zur Wehr setzen.


Die Briten haben Palästina schon seit langem nicht mehr unter Kontrolle. Ihre Versuche, durch radikale Einwanderungsbeschränkungen für Juden, bei gleichzeitiger Förderung einwandernder Araber, diese zu besänftigen, gehen ins Leere. Die bewaffneten Auseinandersetzungen sind längst zum Alltag der noch immer zahlenmäßig weit unterlegenen Juden geworden. Trotzdem nimmt, dank des Imports westlichen Knowhows, der wirtschaftliche Aufschwung weiter Fahrt auf; auch 

Araber strömen zahlreich ins Land, angezogen von den Chancen auf ein besseres Leben.


Wegen der permanenten Auseinandersetzungen zwischen Juden und Arabern, legt 1937 die britische Peel-Kommission einen Plan zur Aufteilung Cis-Jordaniens vor, welcher der jüdischen Bevölkerung  einen schmalen Landstreifen an der Mittelmeer-Küste zuweist, nur ein Fünftel des Landes, ungefähr in der Größe des Burgenlandes. Trotzdem akzeptieren die Juden; die Araber lehnen empört ab. Es ist offensichtlich, dass sie keinen jüdischen Staat tolerieren werden.


4 Monate vor Kriegseintritt veröffentlichen die Briten ein Weißbuch, das die Einwanderung der Juden für die nächsten 5 Jahre radikal beschränkt und danach überhaupt nur mehr mit der - sicher nicht erwartbaren - Zustimmung der Araber gestattet wird. Es wird nichts nützen. Die Araber verbünden sich trotzdem mit Nazideutschland - der Anführer und Anheizer arabischer Aufstände, der Mufti von Jerusalem, war schon zuvor geflüchtet und SS-Mitglied geworden. Die Terroranschläge hören nicht nur nicht auf, sondern nehmen zu.


1947 verabschiedet die Generalversammlung der Vereinten Nationen mit Zweidrittelmehrheit einen Teilungsplan, der von allen arabischen Staaten abgelehnt wird. Ein Blick auf diesen Plan macht rasch klar, dass dieses israelische Staatsgebilde nicht verteidigbar ist. Drei voneinander getrennt, schmale Landstreifen, mit angehängter Wüste Negev, an vielen Stellen nicht mehr als 15km breit, insgesamt ca. 14.000km², also etwas größer als Tirol; eingezwängt zwischen dem Mittelmeer und der sie allseitig umzingelnden, gewaltigen arabischen Landmasse, größer als Europa. Das weiß natürlich auch Ben Gurion, der am 14. Mai 1948 mit der Verlesung der Unabhängigkeitserklärung die Staatsgründung vollzieht. Einige Stunden später überqueren die vereinten Armeen von Ägypten, Transjordanien, Syrien, dem Libanon und Irak die Grenzen Israels, und der Generalsekretär der Arabischen Liga, Assam Pascha, erklärt: "Es wird ein absoluter Ausrottungskrieg werden, ein entsetzliches Massaker, von dem in der Geschichte einmal gesprochen werden wird wie von den Kreuzzügen und den Blutbädern der Mongolen".


Damit beginnt jene Periode, in welcher Israel, in einer fortgesetzten Reihe von Kriegen, sich gegen seine Nachbarn behaupten kann. Schritt für Schritt nähert sich dabei das Land, durch eroberte Gebiete, der Form eines gut verteidigbaren Staatsgebietes an. Dieses stimmt nicht zufällig mit den Grenzen Cis-Jordaniens überein, welches die Briten durch die bereits erwähnte Teilung ihres Mandatsgebietes Palästina, 1922 den Juden für ihre weitere Einwanderung zugewiesen hatten. Für das, was wir dort seit einem Dreiviertel-Jahrhundert beobachten können, haben die Briten, als erfahrene Kolonialmacht, einen treffenden Begriff: Nation Building.


Wikipedia schreibt dazu unter anderem: "Zum Prozess der Nationenbildung gehört die Etablierung gemeinsamer kultureller Standards, darunter oft auch die einer einheitlichen Sprache für das zukünftige Gemeinwesen….Der Prozess der Nationenbildung wird oft von einer militärisch, administrativ und ökonomisch dominanten Machtelite ausgeführt, um bestehende oder angestrebte Herrschaftsverhältnisse zu legitimieren. Nationenbildung  geht oft mit Massengewalt und Vertreibungen einher."


Epilog:


In einem Brief an seinen Sohn schreibt der spätere erste Ministerpräsident Israels, Ben Gurion: "….nachdem wir eine große Macht aufgebaut haben, werden wir die Teilung des Landes beseitigen und über ganz Erez Israel expandieren"; und 1938 an den Vorsitzenden des Exekutivrats der Jewish Agency: "Ich bin für Zwangsumsiedlung, darin sehe ich nichts unmoralisches".


Am 8. Oktober 2023 überwinden Kämpfer der arabischen Terrororganisation Hamas die israelischen Grenzsperren, töten innerhalb weniger Stunden mehr als 1200 Juden, hunderte werden verwundet und mehr als 200 Geiseln in den Gaza-Streifen verschleppt.


2 Tage darauf wird der bekannte israelische Historiker Tom Segev im österreichischen Fernsehen zur Terrorattacke interviewt und erklärt:


"Das ist ein Konflikt, der seit 100 Jahren andauert und für den ich keine Lösung weiß…Die meisten Regierungen der Welt halten sich an eine sehr bequeme diplomatische Fiktion, die Zweistaatenlösung. Eigentlich glaubt niemand mehr daran, und ich sehe sie auch nicht."

bottom of page