Regionalismus (1982)
Im internationalen Baugeschehen ist eine zunehmend an Bedeutung gewinnende Tendenz erkennbar geworden, die mehr zu sein scheint, als bloß eine jener zahlreichen Moden, welche - kaum in Erscheinung getreten - rasch wieder in die Bedeutungslosigkeit zurücksinken. Diese Bewegung lässt sich verstehen als Antwort auf einen allumfassenden Identitätsverlust, Uniformität und Monotonie sowie auf den vorherrschenden formalen Libertinismus.
Dichte und schnelle Informationsverteilung hat im Medienzeitalter eine Bewusstseinslage produziert, in welcher das Wissen um die vielfältigen Möglichkeiten bauliche Probleme zu lösen, alles machbar und nichts mehr selbstverständlich erscheinen lässt. Zugleich führt diese Informationsexplosion zu einer Art kultureller Entropie. Die Fülle und Mobilität der Informationen erzeugt allmählich einen Zustand annähernd gleichmäßiger Verteilung aller bekannten Bauformen rund um den Globus. Städte in Südafrika, Nordamerika oder Westeuropa beginnen, über den Verlust ihrer charakteristischen Gestalt, einander immer ähnlich zu werden. Die „Weltstadt“ von der die Avantgarde geträumt hatte, droht zur deprimierenden Wirklichkeit zu werden.
In einem geschlossenen System - um im Bild des physikalischen Gesetzes zu bleiben - wäre jener Punkt berechenbar, an dem die totale Gleichförmigkeit erreicht wird. Lebensprozesse sind jedoch offene Systeme, daher sind Entwicklungen, wie etwa die erwähnte "kulturelle Entropie", nicht irreversibel. So wird erklärbar, dass jener Leidensdruck, der aus den zunehmend reduzierten Erfahrungsmöglichkeiten wächst, auf das System wirkend, die Entropie wieder verringern kann. In der Evolution entwickeln sich Systeme in Richtung höherer Ordnung und so haben letztendlich nur jene Konzepte Überlebenschancen, welche das beschriebene Phänomen "der Gleichförmigkeit durch zufällige Verteilung" vermeiden. Der Eklektizismus ist in der kulturellen Evolution kein nachhaltiges, tragfähiges Konzept. In sozialpsychologischer Hinsicht aus Überdruss und Orientierungslosigkeit geboren, entbehrt er jeglicher Transzendenz, trägt keine Hoffnung auf Weiterentwicklung in sich und spielt bloß, sich narzisstisch bespiegelnd, großes, bedeutungsleeres Architekturtheater vor.
In den 1930iger-Jahren wird erkennbar, dass eine Reihe von Architekten, unbefriedigt von den kühlen Konzepten der „Moderne“, sich auf die Suche nach einem neuen Heimatsstilbegeben haben. Das Dach wird wieder zur Pflicht, der „perfekten Schachtel“ der Kampf angesagt. Breitbeinig wachsen die Häuser aus dem Boden – das strahlende, abstrakte Weiß ist verboten. Architekten wie Welzbacher, Baumann, Frank und Holzmeister kündigen eine differenziert auf den Ort eingehende Architektur an; der Nationalsozialismus sollte jedoch diese zukunftsträchtige Bewegung zum ideologisch überladenen „Blut und Boden-Stil“ pervertieren.
In den landschaftstypischen Bauformen wird deutlich, in welch hohem Maß hier Vernunft, Erfahrung, ökonomisches Denken und Fantasie gestaltbildend zusammenwirken. Generationen von Architekten sind der suggestiven Kraft ägäischer Baukultur erlegen. Blendend weiße Kuben, die sich in- und übereinander-schiebend, den Hang hinauf staffeln; scheinbar regellos gewundene Gassen voll überraschender Ausweitungen und Engstellen. Verwirrende Störung des Raumempfindens durch weiß gekalkte Straßenbeläge. Doch alles wie nach einem geheimnisvollen Plan geordnet, der sich unauslöschlich unserer Erinnerung einprägt. Kaum zu glauben, dass dies alles nicht mehr wäre, als die Gestalt gewordene Anwendung der eingangs zitierten rationalen Prinzipien. Nichts ist hier dem Zufall überlassen, alles gehorcht diesen Gesetzen. Die Dörfer liegen fast immer an Abhängen, den abendlichen Aufwind von der erwärmten Wasseroberfläche des Meeres zum rascher abkühlenden Berg zur Kühlung nutzend. Der harte Felsboden setzt der gezielten Veränderung großen Widerstand entgegen. Daher wurden die Häuser, eng aneinandergereiht um einen kühlenden Schatten zu spenden, sensibel den Höhenschichten ohne Geländeveränderung folgend, den Hang hinauf gebaut. Aus dieser Notwendigkeit, auf alle Unstetigkeiten und Bewegungen des Geländes zu reagieren, entsteht jenes komplizierte Gassennetz, das unsere Sinne mit immer neuen Blickwinkeln überrascht. Die Höhenstaffelung erzeugt jene charakteristischen Terrassen, die untertags zur Trocknung der Wäsche an der Sonne und nachts zum geselligen Aufenthalt, ja zuweilen auch zum Schlafen genutzt werden. Tiefe Fensterlaibungen in den wenigen Öffnungen der die Hitze reflektierenden, weiß gekalkten Mauern, enge, schattige Gassen und Höfe legen Zeugnis ab von der Auseinandersetzung mit der sengenden Sonne.
Ich erinnere mich an einen besonders raffinierten Kieselweg auf Rhodos. Die länglichen Steine waren mit der Spitze nach oben, eng nebeneinander gesetzt worden, wodurch ein in allen Grauschattierungen irisierend schimmernder Teppich entstanden war. Aber nicht das Auge zu erfreuen sondern um die Temperatur abzusenken, war dieser kunstreiche Belag ersonnen worden. Die der Sonne zugewendete Oberfläche war auf diese Weise auf ein Minimum reduziert worden und so zugleich ein Belag entstanden, der dem ausschreitenden Fuß und den Hufen der lasttragenden Maultiere genügend Halt geben konnte. Das Vergnügen, über diesen vergleichsweise kühlen, reich ornamentierten Teppich den Ort zu durchwandern, war groß. Um das Raffinement auf die Spitze zu treiben, waren auf den Steilstücken des Weges die Abstände zwischen den Kieseln vergrößert, um bei Regen dem Schuh noch besseren Halt zu geben. So gewann dieser Pfad eine aufregende zusätzliche plastische Dimension.
Ganz anders wieder, und doch denselben Prinzipien folgend, ein Bauernhaus in den Alpen. Einfache, kompakte Kuben, mit - im Verhältnis zum Volumen - möglichst geringer Oberfläche, gedeckt mit tief herabgezogenen Dächern, drücken gestalthaft den Kampf gegen Kälte, Wind, Regen und Schnee aus. Dichte Fensterläden verhindern, in der Nacht geschlossen, die Abstrahlung von Wärme. Der mächtige Steinsockel, über dem sich die dunkle Holzwand der Fassade aufbaut, verhindert das Aufsteigen von Feuchtigkeit und verwertet die durch den Aushub des Kellers gewonnenen Steinbrocken.
Welch ein Kontrast wieder zum englischen Landhaus. Reich gegliedert und unübersichtlich, mit markanten Dächern und bizarren Schornsteinlandschaften, vermittelt es schon bei oberflächlicher Betrachtung vieles von den Bedingungen seiner Gestalt. Das milde, feuchte Klima erlaubt es, mit großen Glasfenstern die seltene Sonne weit in die Räume hereinzuholen, in deren Tiefe das Feuer offener Kamine der Feuchtigkeit zu begegnen sucht. Der freie angelsächsische Pragmatismus kümmert sich nicht viel um übergeordnete, starre, formale Prinzipien und baut Räume dort an, wo funktionelle Erfordernisse sie brauchen. So entsteht ein komplexes Gefüge des Baukörpers, das nicht nach Himmels- oder Windrichtung und Jahreszeit fragt.
An diesen wenigen Beispielen wird erkennbar, in welch weitgehendem Ausmaß klimatische, technologische oder ökonomische Bedingungen das Bauen beeinflussen können. Aus den jeweiligen spezifischen Konstellationen kann, durch die Berücksichtigung dieser Randbedingungen, die unverwechselbare Architektur der Landschaft entstehen. So verstanden, hat landschaftsgebundenes Bauen sicher nichts mit den verlogenen, hilflosen Versuchen der Nazizeit zu tun, einen Blut und Boden gleichermaßen verpflichteten Stil zu schaffen.
Die Zerstörungen des Zweiten Weltkriegesvermochten vorübergehend die Weiterführung der Gedanken von Josef Frank, Welzbacher oder etwa Holzmeister zu unterbrechen. Nach Kriegsende brachen Architekten und Bauindustrie auf, in unheilige Allianz verbunden, das große Aufbauwerk zu vollbringen. Die Erinnerung an die Maximen des internationalen Stiles - Reduktion, Einfachheit, Serie, Ökonomie oder Funktionsgerechtigkeit - waren noch lebendig. Bald sollte aber klar werden, dass diese Begriffe zu Armseligkeit, Uniformität, Monotonie und Gestaltlosigkeit depravierten. Hatte der große Krieg noch manches unversehrt gelassen, so setzte nun das ungebrochene Selbstvertrauen der Ingenieure sein Zerstörungswerk fort. Was Bombenteppiche nicht vollständig vermocht hatten, gelang den großzügig und eindimensional drauflos planenden Städte- und Verkehrsplanern. Nur dort, wo mangelnde Finanzkraft dem ungestümen Tatendrang hemmend entgegen stand, blieben gewachsene Strukturen erhalten.
Mitte der 1970er-Jahre scheint die Vergötzung der Maschine, der Glaube an grenzenlosen Fortschritt und die totale Planbarkeit des Lebens den Höhepunkt erreicht zu haben. Die stürmische, optimistische Aufbauphase ist abgeschlossen, "das technologische Konzept“ hat sich triumphal bewährt. Oder etwa nicht? Hat nicht der totalitäre Machtanspruch dieses Konzeptes es als Fortsetzung jener „harten Technologien" entlarvt, die im Weltkrieg so erfolgreich vorangetrieben worden waren? War der Krieg vielleicht noch gar nicht zu Ende?
In der Studentenbewegung, den Lebensmodellen der Hippies, dem Interesse an außereuropäischen philosophischen Systemen, kündigt sich eine weitgehende Abkehr von dieser Welt der Maschinen an. Alte Großtechnologien werden für ineffizient erklärt und deren Ersatz durch scheinbar wirkungsvollere, umweltfreundlichere gefordert. Dezentrale Wind- und Sonnenkraftwerke. oder die Ablehnung von industriellen Methoden in der Landwirtschaft, gewinnen zusehends an Bedeutung. Eine ganze Generation entdeckt für sich ein neues Körperbewusstsein, das nicht Leistungsfähigkeit sondern Sinnlichkeit meint. Natur, längst schon zum griffigen Schlagwort der Werbeindustrie geworden, wird zum Synonym für die Sehnsucht nach Harmonie, Stille, Selbstbesinnung und Innerlichkeit. Der oft strapazierte Begriff der Entfremdung umschreibt den wachsenden Überdruss.
Herangewachsen ist eine sich sicher nicht immer kompetent kritisch artikulierende Generation, welche durch ihre misstrauische und zugleich selbstbewusste Haltung einfache Abläufe verhindert. Alles wird für die „Macher“ schwieriger, und so entsteht jenes Klima, das komplexeren Prozessen Möglichkeiten eröffnet. Allmählich wird eine Bewegung erkennbar, die in einer Art allumfassender Rückkopplung zu einer Veränderung des Tempos gesellschaftlicher Transformation führt. Altes wird wieder entdeckt, aufgehoben, wieder- bzw. weiterverwendet. Neues wird skeptisch befragt, vorsichtiger angewendet. Waren die 1950er- und 1960er-Jahrevoll ungestümer, ja oft rücksichtsloser Vorwärtsbewegung, so schwingt jetzt das Pendel zurück.
Was meint nun, aus diesem großen Zusammenhang heraus verstanden, "Regionalistische Architektur"?
Sie bedeutet Abkehr von Technologien im weitesten Sinne. Die Zeit der Großprojekte, der radikalen Lösungen, könnte vorüber sein. Wieder wichtig werden niedriges Bauen, „langsame Techniken", wie etwa Ziegel, Verputz, Holz, Stroh etc., Sparsamkeit und menschlicher Maßstab, Tradition und Dauerhaftigkeit. Die Zeit der monokulturellen Stadtrand-Siedlungen ist vorbei. Das kleine Quartier, die Adaption, die vorsichtige, behutsame Veränderung, eine Architektur des Ortes, werden für den Städtebau bedeutsam. Mit der zunehmenden Einflussnahme der Betroffenen auf die Planungsabläufe, beginnt sich im ländlichen Raum das Vokabular des Vertrauten, die Formensprache des Trivialen, wieder durchzusetzen. Tradition gewinnt - in Abkehr vom fortschrittsgläubigen Handeln der ersten Jahrhunderthälfte - wieder Geltung in den Wertvorstellungen. Das in der Evolution so ungemein erfolgreiche Prinzip des Wechselspiels von Mutation und Tradition, als Suche nach Verbesserung, bei gleichzeitiger Erhaltung der für den Fortbestand der Art sinnvollen Konzepte, wird wieder entdeckt.
Offensichtlich sind die Strukturen im Bereich der Politik gleichfalls an ihre Grenzen gestoßen und werden als hemmend und sinnentleert erfahren. Die Ansätze zur Demokratisierung, als Versuch politische Großtechnologien zu unterwandern, haben zwar wieder neue Bürokratien installiert und einer kleinen Schicht Zugang zur Macht verschafft. Sie sind mit ihren Anliegen Entfremdung zu überwinden gescheitert. Hingegen haben Konzepte, welche ich mit politischem Regionalismusumschreiben möchte, nicht zu übersehende Wirkung erreicht. Ich denke hier vor allem an die Mobilisierung unmittelbar Betroffener in Bürgerinitiativen gegen konkrete Straßenprojekte, zur Schaffung verkehrsberuhigter Zonen, von Spielplätzen, der Erhaltung abbruchgefährdeter Häuser, usw. Hier wird Identifikation mit öffentlichen Anliegen erreicht, weil die Probleme überschaubar scheinen und Aktivitäten verhältnismäßig rasch zu unmittelbaren Ergebnissen führen können. Das unmittelbare, lebendige Erleben eines funktionierenden Wechselspiels zwischen Problemerfahrung, Problemformulierung und Problemlösung motiviert, sich auch an weitergehende, den unmittelbar erfahrbaren Bereich überschreitende Problemstellungen heran zu wagen. Der Erfolg sogenannter „grüner“ Bewegungen etwa in der BRDbegann mit der Erfahrungen jener Menschen, die in Bürgerinitiativen zu politischem Handeln gefunden haben.
Die unmittelbare Erfahrung von Konflikten ist Voraussetzung sinnvoller, politischer Aktivität. Nur dort, wo dieser Zusammenhang stets bewusst bleibt, wird die Gefahr vermieden werden können, dass politische Eliten sich von den Erfahrungen der Basis entfernen und damit die Fähigkeit zur Lösung von Aufgaben verlieren. Es leuchtet ein, dass mit zunehmender Größe des Problembereiches einerseits und wachsender Anzahl der Betroffenen andererseits, diese Gefahr zunimmt. Aus diesem Blickwinkel betrachtet, bedeutet die Forderung nach politischem Regionalismus Dezentralisierung, mithin also die Verlagerung möglichst vieler Entscheidungen hin zu den Betroffenen.
Ob dieses Konzept geeignet ist der wachsenden Demokratieverdrossenheit begegnen zu können? Eine akzeptable Alternative bietet sich nicht an. Jedenfalls wird das Überleben der westlichen Parteiendemokratien entscheidend davon abhängen, in wieweit sie bereit und fähig sind, diese Herausforderung zur Transformation des politischen Systems anzunehmen und daran zu lernen.
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