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Überlegungen zur Bodenpolitik in Ballungsräumen - am Beispiel des Wiener Wohnbaues (2019)

ERSTE PRÄGENDE WOHNERFAHRUNGEN


Ich bin in einer Zinskaserne eines Wiener Arbeiterbezirkes aufgewachsen. Unsere Wohnung war klein, obwohl sie zu den größeren zählte und auch insofern privilegiert war, als sie das WC und einen Wasseranschluss in der Wohnung hatte. Die meisten im Haus hatten das nicht. Die Küchen hatten nur ein Fenster hinaus zum Erschließungsgang. Unterhaltungen zwischen den Wasser von der Bassena ( Wasserzapfstelle am Gang) Holenden und den gerade Kochenden, über das geöffnete Fenster hinweg, waren häufig. Gleichsam eine großstädtische Form des Tratschens am Dorfbrunnen.


Als ich etwas größer war, besserte ich mein Taschengeld durch das Austragen der Sonntagszeitung in die umliegenden Häuser auf. Ich brachte die Zeitungen hinauf in die Wohnungen und kassierte manchmal von Gutgelaunten ein schmales Trinkgeld. Nicht selten wurde ich unfreiwilliger Zeuge morgendlicher Streitigkeiten.


Die Wohnverhältnisse waren beengt. Oft schliefen die kleineren Kinder im elterlichen Schlafzimmer, die größeren im Wohnzimmer. Ein eigenes Schlafzimmer zu haben, war ein unvorstellbarer Luxus. Rückzugsorte gab es daher nicht, man lebte eng, sehr eng zusammen. Der einzige Ort, an dem man für sich sein konnte, war das WC am Gang. Von daher leitet sich wohl die Bezeichnung "Stilles Örtchen" her und der dortige, möglichst lange Aufenthalt als "Sitzung".Aber auch dort war man nicht vor Störung sicher, denn diese Toiletten mussten auch mit anderen Wohnungen geteilt werden. Das alles klingt ein wenig nach "Schwarzer Kitsch", beschreibt aber die Wohnrealität vieler in den Wiener Zinskasernen jener Zeit, wo schmucke Gründerzeitfassaden an den Straßenfronten die dahinter hausende Armut verbergen sollten.


Ich aber hatte das Glück alles ganz anders erleben zu dürfen. Das Wohnzimmer, in dem ich und meine Schwester auf Ausziehbetten schliefen, hatte ein unüblich großes Fenster in den engen Lichthof, in welchen sich unter normalen Umständen kein Sonnenstrahl verirren hätte können. Allerdings hatten Bombentreffer in den letzten Kriegswochen die in ungefähr 8 Meter Entfernung gegenüber liegenden Häuser zerstört. Sie waren danach vollständig abgerissen worden. Da öffnete sich ein weiter Blick bis zu den Bergen des Wienerwaldes und auf die breite Gleistrasse des nahe liegenden Güterbahnhofes. Ich verbracht ganze Nachmittage auf der Fensterbank in der Westsonne sitzend, träumte vor mich hin, las oder lernte. Großartig aber war es wenn es mir gelang, vom Hausmeister den Schlüssel für den Dachboden auszuleihen, wo man die Wäsche zum Trocknen aufhängen konnte. Denn über eine kleine, schwarz lackierte Stahltüre konnte man auf ein davor liegendes, das Treppenhaus bedeckendes Flachdach hinaus treten. Ich schaute ungehindert hinweg über viele Dächer und hinauf in den freien Himmel.


DER GRÜNDERZEITLICHE WOHNBAU DES 19. JAHRHUNDERTS


Unser Haus war, wie so viele andere, im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts im Boom der Wiener Gründerzeit gebaut worden. Diese nach hoch standardisierten Mustern geplanten Gebäude wurden zur Unterbringung der Hunderttausenden errichtet, die in die rasch wachsende Metropole des großen Reiches strömten, um hier Arbeit und Brot zu finden. Ziel dieser Gebäudekomplexe war es auf engstem Raum möglichst viele Menschen unterzubringen. Straßen im Rechteckraster teilten die neu erschlossenen Stadtviertel in Baufelder für die zu schaffenden Wohnblöcke. Die Hof- und Straßenbreiten wurden so eng wie möglich dimensioniert, denn es galt, angesichts der explodierenden Grundpreise, möglichst viel an Nutzfläche auf den kostbaren Baugründen unterzubringen. Die Wiener Bauordnung erlaubte eine Bebauung dieser Liegenschaften mit bis zu 85% ihrer Fläche. Der überwiegend produzierte Typ waren Zimmer-Küche-Wohnungen, deren Küchen ausschließlich über den Erschließungsgang belichtet wurden, mit einer zugeordneten Wasser-Entnahmestelle und Toilette am Gang, die jeweils mehreren Wohnungen zugeordnet waren. In diesen schlecht belichteten, meist auch feuchten, Kleinwohnungen hausten oft sechs, aber auch zuweilen mehr Personen (vgl. John, 1982).Dazu nahm man auch noch sogenannte "Bettgeher"auf - also Fremde, die tagsüber zum Schlafen in den frei gewordenen Betten kamen - um durch diesen Zuverdienst die hohen Mieten bezahlen zu können. Im Jahr 1918 hatten nur ca. 5% der Wiener Wohnungen fließendes Wasser und nur etwa 7% elektrisches Licht. Die sanitären Verhältnisse entsprachen diesen Rahmenbedingungen, sodass die dadurch begünstigte, weit verbreitete Tuberkulose in den Kronländern als "Wiener Krankheit" bezeichnet wurde. Aber viele konnten sich nicht einmal diese aus heutiger Sicht katastrophalen Wohnverhältnisse leisten. Hundertausende Obdachlose hausten in feuchten Kellern oder Tunneln des überdachten Wien-Flusses (vgl. R. Seiß, 2013).


Da die mit diesen Bauvorhaben aus den Mieteinnahmen erwirtschaftbaren Renditen relativ niedrig waren, obwohl die dort Wohnenden im Durchschnitt ein Drittel ihres ohnehin kargen Monatsbudgets für die Miete aufwenden mussten (vgl. Feldbauer, 1977, Hösl, Pirhofer, 1988), wurden veranlagbare Gelder mehrheitlich woanders investiert. Nämlich eher in den Bau großer, oft ganze Etagen einnehmender, luxuriös ausgestatteter Wohnungen in herrschaftlichen Häusern mit prächtigen, reich gegliederten Fassaden für das aufsteigende, wohlhabende Bürgertum, die sich natürlich wesentlich höhere Mieten leisten konnten. Daraus resultierte ein großer Mangel an kleinen Wohnungen mit für die breite Masse erschwinglichen Mieten.


Auch Berlin erlebte damals diese von den Auswirkungen einer rasch wachsenden Großindustrie befeuerte Gründerzeit mit ähnlichen Ergebnissen. So wie in Wien, waren die Lebens- und Wohnverhältnisse der Massen in der Großstadt elend und die Wohnungsnot groß. Das führte, nach den radikalen politischen Umbrüchen in Folge der Katastrophe des 1. Weltkrieges, in der Weimarer Verfassung von 1919 zur Verankerung wesentlicher, die Konsequenzen daraus ziehender Staatsziele. Einige Zitate aus diesem Grundgesetz sollten auch uns Heutigen Denkanstöße geben können: So zum Beispiel die Verpflichtung des Eigentümers "Wertsteigerung des Bodens, die ohne Arbeits- oder Kapitalaufwendung auf das Grundstück entsteht...für die Gesamtheit nutzbar zu machen" (Weimarer Verfassung, Art. 155).Oder etwa die Möglichkeit "Grundbesitz, dessen Erwerb zur Befriedung des Wohnbedürfnisses, zur Förderung der Siedlung....nötig ist" (ebd.) enteignen zu können. Nicht zuletzt aber die Formulierung des Staatszieles, dass "Die Verteilung und Nutzung des Bodens ...von Staats wegen in einer Weise überwacht(wird), die Missbrauch verhütet und dem Ziele zustrebt, jedem Deutschen eine gesunde Wohnung...zu sichern." (Ebd.). Dieses Staatsgrundgesetz wurde mit den Stimmen der Sozialdemokraten (SPD), aber auch der Liberalen (DDP) und des Katholischen Zentrums, mit einer Mehrheit von 77%, angenommen. Aus heutiger Sicht radikal und revolutionär anmutende Bestimmungen.


DER WOHNBAU IM ROTEN WIEN 1923 - 1933


In der ersten freien Wiener Kommunalwahl nach dem Zusammenbruch der Österreichisch-Ungarischen Monarchie errangen die Sozialdemokraten die absolute Mehrheit. Schon vor dem Krieg hatten sie ein soziales Forderungsprogramm aufgestellt mit radikalen Maßnahmen gegen das Massenelend in der Großstadt. Jetzt hatten sie erstmals Gelegenheit, ihre Vorstellungen umzusetzen. 1923 beschloss der von ihnen dominierte Gemeinderat die Einführung einer zweckgebundenen, extrem progressiv gestalteten Wohnbausteuer auf alle privaten Immobilien, sodass deren Erwerb oder Besitz für Investoren uninteressant wurde (Eigner u.a., 1999). In Verbindung mit der in den letzten Kriegsjahren beschlossenen restriktiven Begrenzung der zulässigen Miethöhe, brach in der Folge der Immobilienmarkt ein. Diese steuerliche Maßnahme spielte, gemeinsam mit einem Bündel von Luxussteuern, so viel Geld in die Stadtkasse, dass die Gemeinde Wien, nicht nur durch den Ankauf der jetzt stark verbilligten Baugründe, innerhalb kürzester Zeit zum größten Grundbesitzer der Stadt aufsteigen konnte, sondern auch über ausreichende finanzielle Mittel zur Realisierung ihres ehrgeizigen Wohnbauprogrammes verfügte. In den zehn Jahren bis zum Untergang der demokratischen Republik in den Wirrnissen des März 1933 wurden ungefähr 60.000 dieser Gemeindewohnungen errichtet, für die nur 4-8% eines durchschnittlichen Arbeiterlohnes an Miete bezahlt werden musste (vgl. Seiß, 2013).


Diese Wohnungen waren zwar nach wie vor klein, verfügten aber über eine natürlich belichtete Wohnküche, zumindest ein weiteres Zimmer, oft auch einen Balkon, Loggia oder einen Erker und vor allem Fließwasser und eine Toilette. Die "Gangküche", das Gemeinschafts-WC und die Wasser-Entnahmestelle am Gang - die sogenannte Bassena - gehörten der Vergangenheit an.


Aber es ging nicht nur darum, möglichst viele Gemeindewohnungen mit gutem sanitären Standard zu bauen. Auch die um enge Höfe gruppierten, finsteren Wohnhöhlen sollten endgültig der Vergangenheit angehören. "Lichthof" lautete der zynische Euphemismus für diese zugunsten der Flächenmaximierung minimierten Abstandsflächen, in die sich kaum etwas Tageslicht, geschweige denn ein Sonnenstrahl, verirren konnte. Die charakteristische Form der gründerzeitlichen Blockrand-Bebauung in den "Arbeiter-Bezirken" war ungeeignet zur Beseitigung der unzumutbaren Verhältnisse. Man blieb zwar bei der Methode der Blockrand-Bebauung, fasste jedoch, wenn das möglich war, einige Baublöcke zu einem "Superblock"zusammen mit einem oder mehreren großen, begrünten Innenhöfen. Die "Superblöcke" wurden zum Marken- und Erkennungszeichen der Bauten des "Roten Wien". Mit dieser neuen städtebaulichen Form wurde der Bebauungsgrad der Grundstücke von 85% auf bis zu 25% abgesenkt (vgl. Seiß, 2013)zugunsten guter Belichtung der Wohnungen und der Schaffung ihnen unmittelbar zugeordneter, großer Grünflächen. So wurden das ganze Jahr über lichtdurchflutete, oft wunderbar großzügig bepflanzte Innenhöfe geschaffen, begrenzt von besonnten Gebäudefronten - ruhige Oasen des Wohnens im lauten Getriebe der Großstadt. Ergänzt wurden diese Gebäudekomplexe durch ein umfangreiches Angebot von Gemeinschaftseinrichtungen wie etwa Kindergärten, Großwaschküchen, Badehäuser, Büchereien, Postämter, Gaststätten, Geschäfte für den täglichen Bedarf, Gesundheits- und Sozialdienststellen. Mit einem Wort: Jede dieser Großwohnanlagen war so etwas wie eine kleine, autonome Stadt und verdeutlichte mit dem repräsentativen Anspruch ihrer Baukörper- und Fassadengestaltung das erwachende Selbstbewusstsein einer aufsteigenden Gesellschaftsklasse.


Alle diese bahnbrechenden Entwicklungen wurden nicht ohne Widerstand umgesetzt. Die Sozialdemokraten hatten im revolutionären Klima des Jahres 1919 die absolute Mehrheit bei den Wiener Kommunalwahlen erobern und diese zur energischen Umsetzung ihres Programmes nutzen können. Aber die wachsenden sozialen Spannungen im Gefolge der Weltwirtschaftskrise und der nachfolgenden, verbreiteten Arbeitslosigkeit sorgten dafür, dass dies nur ein Intermezzo bleiben sollte. Im März 1933 nutzte der christlich-soziale Bundeskanzler Engelbert Dollfuss eine "Geschäftsordnungspanne" zur Ausschaltung des Parlaments und der Errichtung eines autoritären Ständestaates. In diesem fand das wegweisende Wohnbauexperiment des "Roten Wien" ein jähes und vorzeitiges Ende.


WIENER WOHNBAU NACH 1945. UMSETZUNG NEUER STÄDTEBAULICHER LEITBILDER


Nach dem Untergang des Dritten Reiches im Bombenhagel des alliierten Vormarsches begann der entschlossene Wiederaufbau der zerstörten Stadt. Anfangs ging es nur darum, Zerstörtes instand zu setzen oder durch Neues zu ersetzen. Um den Wohnbedarf der in die Großstadt Zuziehenden abzudecken, mussten neue Baugründe erschlossen werden. Die Stadt wuchs rasch und man begann wieder mit der Errichtung gemeindeeigener, billiger Mietwohnungen für die einkommensschwache Gesellschaftsschicht. Später sollte man auch großen Wert darauf legen, für ein gewisses Maß an sozialer Durchmischung zu sorgen, was durch die Anhebung der für die Wohnungsvergabe normierten Einkommensgrenzen geschah. In diesen Gebäuden war die Wohnqualität in den 1950er-Jahren noch niedrig, trotzdem natürlich wesentlich höher als in den gründerzeitlichen Massenquartieren. Betrug die durchschnittliche Größe einer Gemeindewohnung anfangs noch 46m², so war sie bis 1971 bereits auf 70m² gestiegen, um sich später bei 80m² einzupendeln (vgl. Bramhas, 1987). Der Zwang zum sparsamen Einsatz der beschränkten finanziellen Mittel war unübersehbar. Im bewussten Gegensatz zur Gründerzeit, wo das Elend oft hinter reich gegliederten Fassaden verborgen worden war, trat die Armut der Nachkriegszeit in den auf jegliche Gliederung verzichtenden, von kleinen Fenstern regelmäßig durchlöcherten Außenmauern ungeschminkt zutage. Für diese schmucklosen Fassaden fand der Wiener Volksmund rasch die bildhaft ironische Bezeichnung "Emmentaler-Bauten".


Wie in vielen anderen europäischen Städten entstanden in den 1960er-Jahren auch in Wien in den neu erschlossenen, vor allem an der Peripherie liegenden Baugebieten, erste Großwohnanlagen. Architekten und Stadtplaner hatten vor dem Krieg die Grundsätze, welche die Umsetzung leiten sollten, in der berühmt gewordenen Charta von Athen bereits 1933 am IV. Congrés Internationaux d'Architecture Moderne formuliert. Der Ausbruch des 2. Weltkrieges hatte die Breitenwirkung dieses Paradigmenwechsels zu einem avantgardistischen Städtebau der Zukunft verzögert. Die Zerstörungen des großen Krieges hatten dann schließlich den Raum geschaffen, im großflächigen Wiederaufbau die neuen Ideen umzusetzen.


Die Abstände zwischen den Bauten waren reichlich bemessen. Man hatte Platz und konnte die Bebauungsdichte niedrig halten. Die Stadt wuchs in die Breite. Mit dem zunehmenden Wohlstand verbesserten sich die Bauqualität und Ausstattung dieser Anlagen. Angestrebt wurde, jedem Kind einen Privatbereich und damit ein eigenes Zimmer sicherzustellen. Auch der Wohnung unmittelbar vorgelagerte, nach Möglichkeit besonnte Balkone, Loggien oder Terrassen gehörten zur selbstverständlich gewordenen Grundausstattung. Unbestreitbar war die wesentliche Erhöhung der Lebensqualität für die dort wohnenden Familien. Es gab viel Licht, Sonne, Spiel- und Erholungsräume. Die Kinder hatten Platz zum Herumtoben oder zum Rückzug. Die grauenhaften hygienischen und psycho-sozialen Lebensbedingungen in den gründerzeitlichen Massenquartieren der Arbeiterbezirke gehörten damit endgültig der Vergangenheit an. Es schien so, als ob die aus der Enge der großstädtischen Massenquartiere geborene Vision einer von Licht, Luft und Sonne bestimmten, aufgelockerten und menschenwürdigen Stadt, Wirklichkeit werden könnte.


Bald sollte aber massive Kritik an diesen neuen städtebaulichen Strukturen aufkommen. Die in der Charta von Athen geforderte Funktionstrennung war nicht so umgesetzt worden, wie es von deren Autoren intendiert gewesen war. Sie hatten zwar die klare Trennung von industriellen und gewerblichen Produktionsstätten durch breite Grünzonen von Wohngebieten postuliert und wollten Verwaltung, Dienstleistungen, Einkaufen und Kultur im Zentrum ansiedeln. Man war aber dabei immer davon ausgegangen, dass leistungsfähige Verkehrsmittel die Entfernungen zu den Zentren schrumpfen lassen würden. Das Verkehrschaos unserer Tage hatten sie nicht vorhergesehen. Die kleinteilige, dichte Vernetzung unterschiedlichster Funktionen, wie sie unsere gewachsenen Städte charakterisiert, drohte durch die Anwendung der neuen Paradigmen zu zerbrechen. Man befürchtete das Veröden der Zentren, die Anfahrtswege zu den Arbeitsstätten wurden weit, die Vielfalt an Geschäften, Dienstleistungseinrichtungen, Bildungs- und Kultureinrichtungen blieben trotz aller Anstrengungen beschränkt. Zwar wurden mit zunehmendem Wohlstand die neuen Großwohnanlagen an der Peripherie besser mit infrastrukturellen Einrichtungen versorgt, die Problematik blieb aber bestehen.


Als zweites Standbein, neben den Gemeindebauten für die einkommensschwächste Bevölkerungsschicht, gab es ergänzend den durch öffentliche Gelder subventionierten sozialen Wohnbau der gemeinnützigen Bauvereinigungen (siehe auch Wohnungsgemeinnützigkeitsgesetz, WGG). Die Wohnbauförderung ermöglichte den Bau relativ billiger Mietwohnungen, in welche die etwas Besserverdienenden einzogen. 1991 verfügte Wien über rund 200.000 Gemeinde- und 150.000 Genossenschafts-Wohnungen (Statistik Austria). In diesen billigen Mietwohnungen lebten ungefähr 60% der Wiener Bevölkerung. Ein Prozentsatz kostengünstiger, auch für die einkommensschwache Gesellschaftsschicht leistbarer Wohnungen, von dem sozial gesinnte Politiker in anderen westlichen Großstädten nur träumen können.


Ermöglicht wurde dieser hohe Anteil unter anderem durch die Konzentration des An- und Verkaufs von Grundstücken für den gesamten Wiener Sozialen Wohnbau beim gemeindeeigenen Bodenbereitstellungsfond (WBSF). Dadurch sollte verhindert werden, dass die gemeinnützigen Wohnbaugesellschaften sich beim Ankauf konkurrieren und damit die Bodenpreise treiben. Die Gemeinde Wien konnte so auf Vorrat günstig erworbenes, z.B. landwirtschaftlich genutztes Land an der Peripherie, bei Bedarf in Bauland umwidmen und entweder darauf selbst bauen, oder diese Grundstücke billig, unter Verzicht auf jeglichen Spekulationsgewinn, an die gemeinnützigen Bauträger zweckgebunden weiter verkaufen.


Angesichts der in den 70er-Jahren allmählich stagnierenden und dann auch abnehmenden Wiener Bevölkerung, waren steigende Bodenpreise noch kein drängendes Problem. Erst mit dem wieder zunehmenden Wachstum der Stadt in Folge der Jugoslawien-Nachfolge-Kriege (1987-1994) und dem, seit dem EU-Beitritt Österreichs, ab 1997 beschleunigten Zuzug (jährlich 10.000-20.000), mussten wieder im großen Stil Wohnungsneubauten errichtet werden. Ab jetzt gewann dieser Fond eine zentrale Bedeutung, die weit über finanzielle Aspekte hinausgehen sollte.


AUSWIRKUNGEN DES MARKTFUNDAMENTALISMUS IM SOZIALEN WOHNBAU WIENS


Schon in den 1970er-Jahren waren erste Anzeichen der "Vermarktwirtschaftlichung" (vgl. Matzenetter, 1991) des Gemeindebaus zu beobachten gewesen. Das aus dem Roten Wien  der Zwischenkriegszeit übernommene Prinzip des "verlorenen Bauaufwandes", das zur Folge hatte, dass die Mieten nur den Erhaltungsaufwand, nicht aber die Bauinvestitionen abdecken sollten, wurde teilweise aufgegeben. So wie bei  gemeinnützigen Bauträgern, wurden jetzt auch Gemeindebauten unter Beteiligung des Kapitalmarktes finanziert und Eigenmittelbeteiligung eingefordert (vgl. Eigner u. a., 1999).


Ich habe als einige Wiener Großwohnanlagen zwischen 1970 und 2000 planender Architekt unmittelbar erlebt, wie das Vordringen marktwirtschaftlicher Prinzipien sich unmittelbar auf die bislang in Europa beispielhafte Qualität des Wiener Wohnbaues auszuwirken begann. Noch bis in die 80er-Jahre konnte man Wohnhausanlagen planen, deren Bebauungsdichte so weit reduziert werden konnte, dass nicht nur alle Wohnungen, sondern auch die großzügig bemessenen Frei- bzw. Grünflächen das ganze Jahr über besonnt waren. Eine für gesundes Wohnen unverzichtbare Bedingung, die in den Gemeindebauten Wiens bis in die 1980er-Jahre gut erfüllt werden konnte. Geld für die umfangreichen gemeinschaftlichen Einrichtungen der Zwischenkriegszeit war zwar nicht mehr vorhanden, aber die Abstände zwischen den Gebäudefronten waren weit, dazwischen reichlich Platz zum Spielen für die Kinder. Man war nicht wohlhabend in diesen Wohnhausanlagen, Raum zur Entfaltung war aber vorhanden.


Das sollte sich mit dem Anfang der 90er-Jahre einsetzenden, starken Bevölkerungswachstums der Stadt und der damit einhergehenden Verknappung des Wohnungsangebotes ändern. Der Bedarf an Baugründen stieg und damit die Bodenpreise und Wohnungsmieten. Der schon erwähnte Bodenbereitstellungsfond der Gemeinde Wien, als nach wie vor größter Grundbesitzer der Stadt, befand sich in der komfortablen Lage über ein umfangreiches Portfolio billig auf Vorrat angekaufter, potentieller Baugründe zu verfügen. Er ging nun von seiner ursprünglichen Intention ab, den Anstieg der Bodenpreise eindämmen zu wollen und auf Spekulationsgewinne zu verzichten - was der eigentliche Zweck seiner Gründung gewesen war - und begann an die gemeinnützigen Bauträger zu rasch steigenden Marktpreisen zu verkaufen. Ein folgenreicher Sündenfall.


Die Kosten für den Bau einer Wohnung setzen sich im Wesentlichen aus den Kosten für das Baugrundstück und jenen für die Bauherstellung zusammen. Trotz Hochkonjunktur blieben die Kosten für die Bauherstellung relativ stabil, nicht aber jene für die Grundstücke. Eine der Möglichkeiten darauf zu reagieren, um den Preis der einzelnen Wohnung stabil halten zu können, war es, deutlich mehr Nutzflächen auf den Grundstücken zu errichten. Diesen Weg wählte die Wiener Stadtpolitik. Die Auswirkungen dieser Richtungsentscheidung waren bedeutend. Einige wenige Beispiele mögen hier verdeutlichen, wie umfassend die Konsequenzen waren.


Trakttiefen der Gebäude wurden in der Regel mindestens um 25%, oft auch bis zu 50% vergrößert, was zur Folge hatte, dass bei gleich bleibender Wohnungsgröße die Zimmer immer schmäler, dafür aber tiefer wurden. Nicht selten wurden Loggien den Fenstern vorgelagert, da diese zwar billiger in der Herstellung waren, aber genauso hoch wie die Wohnnutzflächen gefördert wurden. Naturgemäß verschlechterten sich dadurch die Belichtungsverhältnisse noch mehr. Die Treppenhäuser verbannte man in die dunklen Innenzonen der Häuser und reduzierte ihre Ausmaße, so wie jene der übrigen Erschließungszonen und sonstiger Gemeinschaftsflächen, auf das geringstmögliche, rechtlich Zulässige. Wer als Planer mehr Nutzfläche pro m² Baugrund unterbringen konnte war gefragt.


Im selben Ausmaß wie die Gebäudehöhen anstiegen schrumpften die Abstände dazwischen. Es entstand der neue Terminus technicus des "Restgrüns" für die kümmerlichen, verbleibenden Freiflächen. Gegenüber den Gemeindebauten des Roten Wien wurden jetzt bis zu zweieinhalb, im innerstädtischen Bereichen sogar bis zum dreieinhalb mehr Nutzfläche auf den Grundstücken gestapelt. Was das für Auswirkungen auf die Wohnqualität hat, muss nicht näher ausgeführt werden. Mit dieser Strategie zunehmender Verdichtung konnte die Stadt erreichen, dass die Mieten im geförderten Sozialen Wohnbau, trotz der rasant steigenden Baugrundpreise, niedrig und damit leistbar blieben - jedoch zu Ungunsten vieler bereits erreichter Qualitäten.


Angesichts der wachsenden Bevölkerungszahl und regen Bautätigkeit sprachen Exponenten der Wiener Stadtregierung gerne mit Stolz von einer neuen Gründerzeit. Dem kann man nachträglich mit einiger Berechtigung beipflichten. Allerdings anders als diese Politiker es meinten, denn man bewegte sich eilig darauf zu - ohne Not! - bei manchen der neuen Projekte wieder die schlechte Wohnqualität der Gründerzeit des 19. Jahrhunderts zu erreichen. Zugestanden muss natürlich werden: Die Schall- und Wärmeisolierung zwischen den dicht gepackten Wohnungen und nach außen waren nun hervorragend, die sanitäre Ausstattung auf der Höhe der Zeit und der Aufzug brachte die Bewohner rasch, ohne dass man die engen, tageslichtlosen Treppenhäuser benutzen musste, in die modernen, smarten, immer kleiner werdenden Wohnungen.


Der Trend zur weiteren Verdichtung sollte sich nach der Jahrtausendwende fortsetzen, da der Zuzug in die Großstadt nicht abriss. Ja er beschleunigte sich sogar, als nach der Welt-Finanzkrise des Jahres 2008 veranlagbares Kapital zunehmend in das scheinbar sichere "Betongold", also Immobilien, verlagert wurde. Überall im dicht verbauten, inneren Stadtgebiet wurden die Dachböden der alten Gründerzeithäuser ausgebaut bzw. bis zu den maximal zulässigen Höhenbegrenzungen aufgestockt; alte, niedrigere Häuser wurden abgerissen und durch höhere Neubauten mit geringeren lichten Raumhöhen ersetzt. Die Bodenpreise explodierten und damit auch die Mieten und Wohnungspreise. Galt früher als Faustformel, dass die Kosten für das Grundstück maximal 20% der Baukosten betragen dürfen, so war man jetzt bei fast 70% angelangt  (vgl. W. Kallinger, Der Standard, 16.03.2019). Das sind dramatische Anstiege, welche immer mehr Rufe nach Beschränkungen des Eigentums an Grund und Boden in den Ballungszentren laut werden lassen.


AUF DEM WEG ZU EINER NEUEN BODENPOLITIK


Wenn das Bevölkerungswachstum weiter anhält - und davon müssen wir angesichts des weltweiten, ungebremsten Wachstums der Ballungsräume ausgehen - muss die Stadtpolitik neue Wege suchen. Das unreflektierte Vergrößern der Gebäudehöhen, bei gleichbleibenden oder sogar verringerten Abstandsflächen, als Ultima Ratio der Stadtplanung, reduziert den neuen Fachbegriff der "Nachverdichtung" zum bloßen Euphemismus für Verschlechterung von Wohnqualität und umschreibt nur die Kapitulation vor dem zum Naturgesetz erklärten Marktfundamentalismus.


Gemeinnützige Bauträger finden heute kaum mehr leistbare Baugründe in den inneren Stadtgebieten.  Um der Gefährdung des Sozialen Wohnbaues der Stadt zu begegnen, trat heuer eine Bauordnungsnovelle in Kraft, die erstmalig in der österreichischen Nachkriegsgeschichte einen - wenn auch zaghaften - Versuch unternimmt, preisregulierend in den freien Grundstücksmarkt zu intervenieren. Mit dieser Novelle soll für alle neu festgelegten Wohngebiete eine Widmungskategorie eingeführt werden die vorsieht, dass dort der Anteil der geförderten, preisregulierten Wohnnutzflächen zwei Drittel betragen soll. Das restliche Drittel können frei finanzierte, nicht preisgeregelte Flächen sein. Von der Einführung dieser neuen Widmungskategorie wird eine Dämpfung der Grundstückskosten erhofft. Ob das tatsächlich geschieht wird davon abhängen, in welchem Ausmaß dieses neue Instrument angewendet werden wird. Der Aufschrei in der Immobilienbranche war jedenfalls unüberhörbar. Ich gehe allerdings davon aus, dass es in den Ballungsräumen wesentlich weiter gehende Eingriffe in das Recht auf Eigentum an Grund und Boden geben wird müssen, um gute und gesunde Lebensbedingungen für alle in der weiter wachsenden Großstadt zu ermöglichen.


EIN KONZEPT FÜR DIE NACHVERDICHTUNG WIENS


Als Beitrag und Anstoß zur städtebaulichen Diskussion seien hier, mehr oder weniger stichwortartig formuliert, einige Anregungen angeführt. Diese sollen pragmatische Wege aufzeigen, wie die Lebensqualität in einer wachsenden, sich weiter verdichtenden Großstadt nicht nur erhalten, sondern sogar verbessert werden kann; und dies nicht nur für "Die Oberen Zehntausend".


Vieles davon lässt sich bereits jetzt im bestehenden rechtlichen Rahmen umsetzen. Dafür bedarf es nur des politischen Willens. Dieses Bündel an Einzelmaßnahmen wird jedoch in seinen Ansprüchen scheitern und weitere Verdichtung und Ansteigen der Baugrundpreise nicht verhindern können, wenn es nicht begleitet wird von einer Bodenpolitik, welche im Ballungsraum das Gemeinwohl über das Einzelinteresse des Eigentümers stellt.


Unbestritten soll vorausgesetzt bleiben, dass die Stadt, seit ihrer Geburt in den Ebenen Mesopotamiens, ihrer zentralen Funktion als Katalysator jeglichen zivilisatorischen Fortschritts nur  genügen kann, wenn sie über eine große Dichte verfügt. Die Zuziehenden finden hier mehr berufliche Möglichkeiten, mehr Anregungen, Austausch mit unterschiedlichsten Menschen, die Vorteile (allerdings auch Nachteile!) der Anonymität, ein vielfältiges Angebot an Dienstleistungen, sozialen Diensten, Unterhaltung. Die Entfernungen (in einer funktionierenden Großstadt) sind kurz bzw. schnell überwunden, alles ist rasch und in großer Vielfalt verfügbar. Die Stadt ist ein riesiger Marktplatz des Austausches von Ideen und Gütern, sie elektrisiert, regt an und auf, ist eine gigantische, Zivilisation produzierende Maschine.


Manches - Lebenswichtiges! - kommt allerdings, wenn wir nicht gegensteuern, zu kurz. Wie können die Bedürfnisse nach Licht, Luft und Sonne befriedigt werden, wo sind die für die Entwicklung unserer Kinder so notwendigen ungeregelten, unkontrollierten Freiräume? Die Staukolonnen auf den Autobahnen, wenn wir am Wochenende aufs Land ins Freie fahren, legen ein beredtes Zeugnis ab von den in der dichten Stadt nicht erfüllten Bedürfnissen des Großstadtmenschen. Was also ist zu tun?


WIE KÖNNEN WIR ES SCHAFFEN, FÜR DIE WENIGER BEGÜTERTEN GUTE WOHNQUALITÄT BEREITZUSTELLEN?


Wie sehr die Wohnqualität mit guter Belichtung und Besonnung verbunden ist, muss wohl nicht näher erläutert oder begründet werden. Ein Blick auf die Wohnungspreise eines beliebigen Neubaus in städtischen Bereichen zeigt es deutlich: Je höher oben das Stockwerk, desto höher auch der Preis. Für Wohnungen im Dachgeschoß mit Terrassen werden heute Fantasiepreise bezahlt - und das nicht nur in Zentrumslagen. So findet soziale Segregation nicht alleine zwischen Wohnvierteln, sondern auch in den Häusern selbst statt. Wer im Treppenhaus höher hinauf zu seiner Wohnung muss, ist auch auf der sozialen Stufenleiter höher gestiegen. Zwar wohnte das gehobene Bürgertum seinerzeit gerne in der Beletage und die Plebs oben unter dem Dach. Aber damals gab es weder Aufzüge noch Klimaanlagen.


Die auf lange Sicht wahrscheinlich unvermeidliche, weitere Verdichtung wird, sofern nicht Katastrophen oder Malthus'sche Zykleneingreifen, zwangsläufig zu höheren und näher zueinander rückenden Gebäuden in den Ballungsräumen führen. Wir können beobachten, dass die Silhouetten heutiger Großstädte zunehmend von Hochhausclustern geprägt werden. Jedes größere Unternehmen setzt seinen Ehrgeiz darein, im eigenen Gebäude zu residieren, die kleineren geben sich auch damit zufrieden, eine Etage im repräsentativen Verwaltungsbau zu mieten. Der Anteil der Arbeitsstätten am Bauvolumen einer Stadt ist groß. Viele davon sind frei von störenden Emissionen und ohne weiteres mit benachbarten Wohnfunktionen kompatibel. Wir alle kennen die zahllosen gläsernen Verwaltungsbauten mit ihren allzu gut belichteten Räumen. Viel technischer und finanzieller Aufwand wird dort zuweilen getrieben, um störend auf den Arbeitsbereich einfallendes Licht auf ein erträgliches Maß zu reduzieren. Wo das nicht gelingt, helfen dann - gar nicht so selten - auf die großen Glasscheiben aufgeklebte Folien oder sogar bloßes Zeitungspapier, das demonstrativ von fehlgeleiteten Repräsentationsbedürfnissen kündet.


Man sollte daran denken, Arbeitsstätten, deren Bedarf an Besonnung bzw. sehr starker, natürlicher Belichtung eher gering ist und die ohne das Wohnen beeinträchtigende Emissionen auskommen, also zum Beispiel Büroräume, grundsätzlich nur in der unteren Hälfte der Häuser anzuordnen. Die oberen Geschoße blieben dann, näher zum Himmel, hervorragend belichtet und besonnt, dem Wohnen vorbehalten. Diese Modelle gemischt genutzter Gebäude - Arbeiten unten, Wohnen darüber - gibt es natürlich schon jetzt. Es muss nichts Neues erfunden werden. Die Häuser können höher werden und enger zusammenrücken, Arbeiten und Wohnen kommen näher zusammen. Statt einer horizontal gegliederten, entsteht die vertikal geschichtete Stadt.


Was hindert uns solche Stadtmodelle nicht nur weiter zu verfolgen, sondern auch konsequent im großen Stil umzusetzen - und zwar nicht nur bei Neu-, sondern auch bei Umbauten von Bestandsobjekten? Technisch und organisatorisch verfügen wir über alle Mittel. Rechtliche Hindernisse? Schon jetzt verfügt Wien über die Möglichkeit der Widmung in vertikaler Schichtung, also im Bebauungsplan vorzuschreiben, dass ab einer festzusetzenden Höhe über Niveau nur Wohnnutzungen zulässig sind. Es mag eingewendet werden, man könne den Grundeigentümern nicht die Nutzung ihrer Liegenschaften vorschreiben. Aber das geschieht auch schon jetzt bei Umwidmung von "Gemischten Baugebieten" in reine "Wohngebiete".Warum also nicht umgekehrt, was nebenbei bemerkt eher einer Wertsteigerung gleichkommen würde. Und wenn eine Wertminderung eintreten sollte? Ja und? Kosten an den Rändern der Stadt ausufernde Neubaugebiete der Allgemeinheit nichts? Die schlechte infrastrukturelle Versorgung dieser Baugebiete an der Peripherie hat oft ihre Ursache in überforderten, leeren Stadtkassen. So wird eben nur das unbedingt Notwendigste gebaut. Das sind dann Straßen mit Leitungen für Wasser und Abwasser, Strom, Gas, Telefon und vielleicht auch schnelles Internet. Gut ausgebaute und eng vernetzte öffentliche Verkehrsmittel, wie sie in den zentraleren Stadtgebieten Wiens uns selbstverständlich geworden sind, fehlen in der Regel. Die Vielfalt an Arbeits- und Sportstätten, Kindergärten, Schulen, anderen Bildungseinrichtungen, Einkaufsmöglichkeiten und Dienstleistungsangeboten, von niederschwelligen kulturellen Angeboten ganz zu schweigen, alles das, was die eigentliche Qualität einer Großstadt ausmacht, wird dort fehlen. Wesentlich sinnvoller, auch in einer ökonomischer Betrachtungsweise, wäre es, öffentliche Investitionen dorthin zu lenken, wo es diese befruchtende Vielfalt und Dichte an Angeboten bereits gibt, nämlich im bereits vorhandenen Stadtkörper.


WERDEN WIR MIT DIESEN MASSNAHMEN DIE "WOCHENENDLICHE" FLUCHT AUS DER GROSSSTADT UND DIE SO GENERIERTE VERKEHRSLAWINE VERMEIDEN?


Sicher nicht. Es wird nicht genügen unseren verdrängten Hunger nach Licht, Luft und Sonne durch die beschriebene vertikale Nutzungsschichtung zu beseitigen. Vor allem unsere Kinder brauchen die körperlich erfahrbaren, unregulierten Freiräume, die Weite der Landschaft, die unbehinderte Bewegung im Raum, die Begegnung mit dem Unbekannten und den eigenen Grenzen, um sich daran zu erproben. Wo finden sie die Freiräume zum Herumtoben, sich vielleicht auch dabei zu verletzen, die Gelegenheit dazu, in der Wiederholung die Angst zu versagen zu überwinden und daran zu wachsen? Alles das, was vielleicht noch im ländlichen Raum erlebbar ist - und auch dort oft nur mehr eingeschränkt. Dem Bestreben dies für die Stadt zurückzugewinnen, steht die zunehmende innere Verdichtung und deren Ausbreitung im Raum entgegen.


Die Abstandsflächen zwischen den hochwachsenden Häusern werden immer seltener vom Sonnenlicht beleuchtet. Was wir aber dazugewinnen können sind die Flächen über den Dächern der Stadt. Wenn es gelingt deren schlummernde Möglichkeiten großflächig zu nutzen, wird nicht alles, aber vieles gewonnen werden. Hier sind Licht, Luft und Sonne im Übermaß vorhanden. Was früher in den Gemeindebauten des Roten Wien in den großen, grünen Höfen seinen Platz zur Entfaltung fand, könnte heute, fast verlustfrei, nach oben verlagert werden. Auf den ersten Blick mögen diese Flächen klein erscheinen. Aber einige wenige technisch-organisatorische Maßnahmen reichten aus, das Potential wesentlich zu vergrößern.


Wer die Flachdachflächen heutiger Wohngebäude begeht wird feststellen, dass diese von zahllosen Entlüftungsleitungen, Schornsteinen und Klima-Außengeräten von Einzelanlagen im engen Raster durchlöchert sind. Die Nutzung der dazwischen verbleibenden Restflächen erlaubt vielleicht einem Privilegierten die Anlegung eines kleinen Gärtchens, mehr wird in der Regel nicht möglich sein. Wie wäre es aber, wenn sich unter der Decke des Flachdaches ein niedriges Installationsgeschoß befände. Dort könnte man alle vertikalen Entlüftungs-, Klima- und sonstigen Versorgungsleitungen horizontal zu einigen wenigen Punkten zusammenführen und konzentriert, an nicht störenden Punkten, über Dach führen. Dort fänden auch die Maschinen von Kleinklimaanlagen ihren Platz, wenn diese nicht ohnedies als Gemeinschaftsanlagen in schlecht oder gar nicht belichteten Geschoßen untergebracht werden. Auch für die Nutzung des Daches wichtige Gemeinschaftseinrichtungen wie z.B. Sanitäranlagen, Umkleiden, Teeküchen, eventuell ein Schwimmbecken, können dort sinnvoll untergebracht werden. Die kostbare, intensiv begrünte und gut nutzbare Dachfläche bliebe frei. Je größer diese Fläche ist, desto vielfältiger wären die Nutzungsmöglichkeiten. Was steht dem entgegen, mehrere Häuser, auch mit unterschiedlichen Eigentümern, zu verbinden, sogar mit Brücken (Stegen) über Straßen hinweg? Ein Zusammenschluss zu einem dichten Freiraumnetz über die Dächer der Stadt hinweg. Wien mit seinen durch den Bebauungsplan über große Gebiete gleichförmigen, relativ streng regulierten Gebäudehöhen, wäre prädestiniert für solche Lösungen. Das rechtliche Instrumentarium dafür ist vorhanden.


Gut, wird man einwenden können, aber sollten wir nicht besser diese Dachflächen für die Aufstellung von Photovoltaik-Anlagen nutzen, so wie es bereits jetzt, gefördert mit öffentlichen Mitteln, geschieht? Ja und Nein zugleich. Wien hat gute Erfahrungen bei der Sanierung von schlecht strukturierten gründerzeitlichen Baublöcken gemacht. In solchen Stadtgebieten wurden Sanierungsgebiete ausgewiesen. In mühsamen und langwierigen partizipativen Prozessen, begleitet durch von der Stadt bezahlte Teams, wurde angestrebt, die oft großen Innenhofflächen zu "entkernen". Das bedeutet, dass die Vielzahl der ins Innere der Höfe gewucherten, niedrigen Gebäude, in denen Kleinbetriebe ihrer oft gar nicht so leisen Tätigkeit nachgingen, abzubrechen waren. Die Verhandlungen mit den unterschiedlichen Eigentümern zogen sich oft über mehrere Jahrzehnte, manchmal auch über Generationen hinweg. Es konnte lange dauern, bis man das Endziel einer gut nutzbaren, nur mehr von Wohnungen umschlossenen Freifläche erreicht hatte. Die Teams brauchten einen langen Atem. In so sanierten Gebieten, wo also ausreichende Freiflächen "zu ebener Erd" geschaffen wurden, können die Dachflächen natürlich auch für PV-Anlagen genutzt werden oder vielleicht auch als begrünte Dächer, um der zunehmenden Versiegelung des Bodens entgegen zu wirken. Dieses Verfahren sollte natürlich in den dafür geeigneten Stadtvierten verstärkt weiter verfolgt werden. Um hier schneller erfolgreich zu sein, müsste das rechtliche Instrumentarium nachgeschärft werden. Dazu gehört allerdings die Bereitschaft, das Gemeinwohl authentisch zu interpretieren.


In jenen gründerzeitlichen Rastervierteln, wo diese Entkernung nicht erfolgversprechend betrieben werden kann, wird man jedenfalls nicht die mühsam bereinigten Dachflächen zur Energiegewinnung nutzen. Hier gibt es gute alternative Möglichkeiten. Z.B. Die Bekleidung sonnenzugewendeter Fassadenflächen der obersten Geschoße mit PV-Wandmodulen. Vielleicht auch ergänzt durch mit transparenten PV-Modulen beschichtete, hohe Glaswände, die als Windschutz die Aufenthaltsqualität auf den Dachflächen erhöhen würden.


MÜSSEN WIR ETWAS TUN?


Die vorgestellte kleine Auswahl an Maßnahmen ist nicht originell. Das meiste wurde schon erprobt und könnte der Verschlechterung von Lebensqualität in einer sich weiter verdichtenden Großstadt entgegenwirken. Die Umsetzung wird derzeit vor allem am noch fehlenden Problembewusstsein unserer politischen Verantwortungsträger scheitern. Man wird alljährlich nicht müde zu betonen, dass Wien wieder einmal zur lebenswertesten Stadt der Welt gekürt wurde. Das hat natürlich seine Berechtigung, leben wir doch in einer gut verwalteten, nach wie vor sozial orientierten Stadt. Bedacht sollte aber werden, wer bei solchen Rankings befragt wird, denn das sind nicht die Bewohner des immer breiter und höher werdenden Sockels einer immer spitzer zulaufenden sozialen Pyramide.


Wir sollten nicht warten bis es fünf vor zwölf ist, denn dieser Zeitpunkt kann bei sozialen Verwerfungen schnell erreicht werden. Und dann wird es vielleicht nicht mit einigen vorsichtigen Eingriffen in das Eigentumsrecht getan sein. Bedenken wir, dass uneingeschränktes Eigentum an Grund und Boden historisch erst jungen Datums ist und dort, wo es um die Interessen der Allgemeinheit geht, bereits heute rechtlich begrenzt wird. In der weiter sich verdichtenden und wachsenden Großstadt wird es unumgänglich sein, in der Bodenfrage den sozialen Ausgleich zwischen Einzel- und Gemeinwohl zu finden. Der gesellschaftliche Diskurs darüber sollte besser gestern als heute begonnen haben.


© 2019 ERIC STEINER: office@ericsteiner.at


Literatur:

Bramhas, Erich, Der Wiener Gemeindebau. Vom Karl Marx-Hof zum Hundertwasserhaus. (Basel 1987).

Feldbauer, Peter, Stadtwachstum und Wohnungsnot. Determinanten unzureichender Wohnungsversorgung in Wien 1848 bis 1914. Sozial- und wirtschaftshistorische Studien 9, Wien 1977).

Förster, Wolfgang u. a., Wohnungen für Wien. Der Wiener Bodenbereitstellungs- und Stadterneuerungsfonds 1984 - 1991. (Wien 1992).

Hösl, Wolfgang / Pirhofer, Gottfried, Wohnen in Wien 1948 - 1938. Studien zur Konstitution des Massenwohnens. (Forschungen und Beiträge zur Wiener Stadtgeschichte 19, Wien 1988)

Matzenetter, Walter, Wohnbauträger zwischen Staat und Markt. Strukturen des Sozialen Wohnbaus in Wien. (Frankfurt a. M - New York 1991).

Seiß, Reinhard, Recht auf Schönheit und großzügigen Grünraum, Wiener Zeitung online v. 19.01.2013.

Seiß, Reinhard, Wohnbau für den neuen Menschen, Wiener Zeitung onl. v. 19.01.2013

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