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Das Ende einer Freundschaft (2019)

Das Neue Jahr 2017 begann für mich nicht schön. Ich beendete die mehr als ein halbes Jahrhundert dauernde, in unserer gemeinsamen Studienzeit beginnende Freundschaft mit S. und M. Wie hatte das geschehen können?


Im Frühsommer des Jahres 2015 erlebten die Österreicher den Zusammenbruch ihrer eitel, trügerischen Vorstellung, in einer sich stürmisch verändernden Welt, den daraus resultierenden Auswirkungen gewalttätig ausgetragener Konflikte auf einer "Insel der Seligen" entkommen zu können. Die Bürgerkriege in Syrien und Afghanistan kumulierten in einer rasch anwachsenden Flüchtlingswelle, welche sich über die sogenannte "Balkanroute" in Richtung Deutschland und weiter in den Norden bewegte. Unsere bereits zur angenehmen Gewohnheit gewordene Freiheit, sich ohne wahrnehmbare Grenzen ungehindert innerhalb Europas bewegen zu können, zusammen mit der, wie jetzt sichtbar wurde, nicht wirksamen Sicherung der EU-Außengrenzen, ermöglichte Hunderttausenden den Weg in den friedlichen, reichen Westen. Die Zahl der um Asyl in Österreich Ansuchenden wuchs rasant an, obwohl die überwiegende Mehrheit weiter über die geöffnete Grenze nach Deutschland und in die skandinavischen Länder wollte. Auf diesen Ansturm war man nirgends vorbereitet gewesen. Bilder von in provisorischen Zeltstädten hausenden Flüchtlingen, wie man sie aus Fernsehberichten kannte, kamen jetzt nicht mehr aus fernen Kriegs- und Fluchtgebieten sondern aus unmittelbarer Nähe. Bilder von tausenden notdürftig in Zelten Untergebrachten in Linz, Salzburg und dem zentralen, völlig überbelegten Flüchtlingslager in Traiskirchen;auf freien Wiesen, die sich im heftig niederströmenden Sommerregen rasch in Morast verwandelten. Eilig errichtete Notquartiere mit Menschenschlangen vor provisorisch hingestellten WC-Anlagen ohne Waschgelegenheiten, Familien mit weinenden Säuglingen, verstörten Kleinkindern. Große Gruppen von jungen Männern, untätig herumlungernd, misstrauisch beobachtet von einer durch dieses sicht- und spürbare, nahegekommene Leid überforderten, einheimischen Bevölkerung; Bilder tausender im Freien vor dem Budapester Bahnhof Lagernder, deren Notversorgung die Behörden verweigerten, um sie so rasch wie möglich loszuwerden in die Züge gegen Westen. 


Alle diese bestürzenden Fernsehbilder mobilisierten die spontane Hilfsbereitschaft vieler Österreicher. Die Erinnerung an die Ereignisse des Jahres 1956 war noch bei vielen wach, als der Budapester Aufstand gegen das kommunistische Regime von den herbeigerufenen Sowjetpanzern blutig nieder gewalzt wurde. Damals flüchteten Hunderttausende über die Grenze und wurden hier von der Bevölkerung empathisch und hilfsbereit aufgenommen. Viele zogen dann weiter in westliche Länder - vor allem in die Vereinigten Staaten - viele blieben aber auch, die meisten in Wien. Auch meine Eltern hatten ein kinderloses Paar für einige Wochen in unserer kleinen Wohnung aufgenommen.


Damals war in der Wiener Bevölkerung die Erinnerung noch lebendig an das eigene, erlittene Elend in den Hungertagen und Bombennächten des im Feuerfanal zusammenbrechenden Dritten Reiches. Dazu kam, dass unser Land im Osten noch von kommunistischen Diktaturen umgeben war, die mit einem streng bewachten "Eisernen Vorhang" ihre verarmte Bevölkerung an der Flucht in das nahe, prosperierende, ihnen als Gelobtes Land erscheinende Österreich hinderten. Der wirtschaftliche Aufschwung nach dem Ende des 2. Weltkrieges war ausgeblieben. Jeglicher Widerstand, jede Kritik wurde  gewaltsam unterdrückt und damit auch die Hoffnung auf einen Wandel zum Besseren. So sahen viele junge Ungarn für sich in ihrem Land keine Zukunft und suchten ihr Heil im Aufstand. Die Sympathien für diesen verzweifelten Versuch und die Bereitschaft zu tatkräftiger Hilfe waren hierzulande groß.


Dieses Mal war alles anders als 1956. Die Flüchtlinge kamen nicht aus unmittelbarer Nachbarschaft, sondern aus nicht nur geografisch weit entfernten, kulturellen Räumen. Es gab viele, die spontane Hilfe leisteten, Familien bei sich aufnahmen, materielle Unterstützung gaben, oder einfach nur jenen, die weiter in den Westen ziehen wollten, dabei halfen. Die Zahl derer, die Kriegen und Hunger entkommen wollten war groß. Es konnte aber nicht ausbleiben, dass bald - allzu bald - die Stimmen jener lauter wurden, die das Schließen der Grenzen und ein Ende unserer Hilfsbereitschaft einforderten. "Schluss mit der Willkommens-Kultur" lautete der schreckliche Slogan, mit dem jene bedacht wurden, die ihrer humanitären Verpflichtung nachgekommen waren und jetzt als naive "Gutmenschen" beschimpft wurden. Die rechtsgerichteten Nationalisten, welche schon seit langem Ressentiments gegen die Ausländer aus dem Osten geschürt hatten, bekamen zusehends mehr Gehör in der Bevölkerung: "Alles Terroristen und Drogendealer!" Erste, noch vereinzelte Konflikte zwischen Einheimischen und Asylsuchenden blieben nicht aus, wurde doch diesen Flüchtenden die Annahme jeglicher Beschäftigung untersagt und damit die Möglichkeit zu einem, wenn auch noch so geringen Grad an Autonomie und zur Aufrechterhaltung ihrer Selbstachtung konsequent genommen. Auch die Sprachbarrieren waren oft groß und kaum überwindbar. Bald sahen diese sichtbar Verelendeten, frustriert in ihren Hoffnungen, keine Perspektiven mehr auf ein besseres Leben in der Fremde. Die Feindseligkeiten nahmen zu und die Stimmung in der Bevölkerung begann zu kippen.


So konnte es nicht ausbleiben, dass nicht nur in den Medien, sondern auch in den Familien-, Freundes- und Bekanntenkreisen die Flüchtlingsproblematik, mit wachsend negativer Konnotation, Eingang in die Gespräche fand. Manche Bruchlinien taten sich jetzt auf, die man gewöhnt war, im alltäglichen Umgang zu übergehen. So geschah es auch mir.


Meine Freundschaft mit S. und M. reichte nahezu ein halbes Jahrhundert, bis weit in die Studienzeit zurück. Vor allem mit S. und seinen jeweiligen Lebenspartnerinnen waren die Kontakte immer eng gewesen. In den letzten zwei Jahrzehnten, war er weltanschaulich immer weiter nach rechts gerückt. Wir verbrachten zwar weiterhin so manchen lustig beschwingten Abend miteinander, reisten auch gemeinsam nach Frankreich, Portugal, Spanien und Italien, aber wir alle hielten es für klug, weltanschauliche Themen nach Möglichkeit zu meiden und nicht durch Streitgespräche unsere weiterhin bestehenden Gemeinsamkeiten zu gefährden. Das gelang auch lange in der Regel recht gut, führte aber doch unübersehbar zur Verarmung unserer Beziehungen. Die Zusammenkünfte wurden seltener und die gemeinsamen Urlaubsreisen hörten irgendwann einmal überhaupt auf.


Im Mai 2015 trafen wir uns alle zu einem der selten gewordenen gemeinsamen Abendessen. Die Medien waren voll mit Berichten über die zahlreichen Flüchtlinge, die über die "Balkan-Route" kamen, die behelfsmäßigen, schnell wachsenden Zeltstädte und die zum Teil katastrophalen hygienischen Bedingungen in den Notunterkünften. Irgendwie kamen wir - bei allen Versuchen heikle politische Themen zu vermeiden - doch darauf zu sprechen, konnte man sich doch kaum diesen vom Fernsehen ins Haus gelieferten, bewegenden Bildern entziehen. Vielleicht gingen wir davon aus, man könne sich hier, jenseits aller politischer Differenzen, auf Basis einer uns allen gemeinsamen aufklärerisch-christlich geprägten Werthaltung, in freundschaftlicher Gemeinsamkeit, über die uns bewegenden Gefühle austauschen. Da fiel von M. das verhängnisvolle Wort, "....es sei doch mit diesen Zeltstädten nicht so schlimm; wir sind früher im Urlaub doch auch Zelten gewesen". Ich war über diese zynische Haltung entsetzt und versuchte in meiner Antwort auch die durchaus berechtigten Ängste in der Bevölkerung zu berücksichtigten. Ängste vor einem rasch anwachsenden Heer unterqualifizierter, nicht unserer Sprache mächtiger Arbeitsloser, zum Teil durch Kriegserlebnisse traumatisierter junger Männer und deren Familien mit vielen Kleinkindern. Vor daraus resultierenden kulturellen und sozialen Spannungen, Elendsvierteln mit einer zunehmend gewaltbereiten, fremdländischen Bevölkerung, Entwicklungen wie in der berüchtigten "Pariser Banlieue". Meine Enttäuschung war groß, als die  Freunde keine Bereitschaft erkennen ließen, sich auf eine differenzierende Betrachtungsweise einzulassen. Ihre Harthörigkeit und der Mangel an Empathie angesichts des Elends der Asylsuchenden irritierte mich und ließ mich schlecht argumentieren. Wir beendeten dann noch einigermaßen höflich den gemeinsamen Abend. Ich war aufgewühlt und schlief schlecht.


Ich war früher nicht blind gewesen, das immer deutlicher nach rechts gerücktes Weltbild von S. war unübersehbar geworden. Natürlich waren Eva und ich fassungslos gewesen zu hören, wie positiv beeindruckt seine Lebensgefährtin von Putin war. Auch erinnerte ich mich gut an einen lange zurückliegenden, feuchtfröhlichen Abend, als mir M. in vorgerückter Stunde (verzweifelt?) heftig entgegnete: "Du hast's gut mit Deinem im Widerstand kämpfenden Heldenvater; was soll aber ich mit meinem Nazi-Vater!" Auch hatte ich mir einiges dazu gedacht, als ich erfuhr, dass der "Hausanwalt" seiner Frau Sohn eines FPÖ-Granden aus den 1950er- und 60er-Jahren war. Ich hatte geglaubt, damit nicht wirklich ein Problem zu haben.


Vor Augen stand mir dabei immer das Vorbild meines Vaters, der nach seiner Rückkehr aus der englischen Emigration einen ehemaligen Nationalsozialisten zu seinen besten Freunden zählte. Und hatte nicht die Erfolgsgeschichte der Zweiten Republik ihr Fundament in der Fähigkeit, die weltanschaulichen und lebensgeschichtlichen Gräben zwischen Nazis, konservativen Christlich-Sozialen und Sozialisten zu überbrücken, um aus den Trümmern des Zweiten Weltkrieges einen neuen Staat aufzubauen? Was ich aber an diesem Abend aus diesem, wohl unter Alkoholeinfluss unbedacht flott dahingesagten Zynismus heraushörte, hatte nichts mit weltanschaulichen oder politischen Differenzen zu tun. Hier war mir eine verachtende Sprache und damit eine Haltung begegnet, die in den letzten Jahren im öffentlichen Diskurs bereits salonfähig geworden war. Nach diesem für Eva und mich so unglückselig erhellenden Abend trafen wir uns weiterhin zu Viert oder Sechst, wenn auch selten, und vermieden tunlichst politische Themen, weil wohl niemand unsere fast lebenslange Freundschaft unbedacht noch mehr gefährden wollte. Die Freunde waren damit zufrieden.


Der durch die "Flüchtlingskrise" ausgelöste "Rechtsruck war nicht auf Österreich beschränkt geblieben und führte zu einem europaweiten Erstarken rechtsgerichteter Parteien. 2016 stand uns die Wahl eines neuen Bundespräsidenten bevor, ein Amt das in der Zweiten Republik immer an sozialdemokratische Kandidaten gegangen war. Für die weit rechts im politischen Spektrum beheimatete "Freiheitliche Partei" kandidierte Norbert Hofer. Ein bisher in der Öffentlichkeit wenig auffällig gewordener Burgenländischer Provinzpolitiker aus bürgerlicher Familie. Er hatte in den 1990er-Jahren eine Ausbildung zum Kommunikations- und Verhaltenstrainer absolviert und rasch Parteikarriere gemacht, die ihm schließlich auch eines der formal höchsten politischen Ämter, nämlich des Dritten Nationalratspräsidenten einbrachte. Von den im ersten Wahlgang antretenden Kandidaten waren für die entscheidende Stichwahl der in der Öffentlichkeit gut bekannte, linksliberale Kandidat Van der Belen und eben jener Norbert Hofer verblieben. Auf diese richtete sich jetzt vermehrt die mediale Aufmerksamkeit. Mit einem Mal wurde vielen Linken und Liberalen, aber auch so manchem Christlich-Sozialen bewusst, dass das höchste Staatsamt an den Repräsentanten einer weit rechts stehenden Partei gehen könnte, die auch sieben Jahrzehnte nach dem Fanal des "Dritten Reiches" ihre Nähe zum deutsch-nationalen und nationalsozialistischen Gedankengut zwar leugnete, aber nicht verbergen konnte. Da die Stellung des Bundespräsidenten in der österreichischen Verfassung, weit über das Protokollarische hinausgehend, politisch bedeutsam ist und auch mit umfassenden Machtbefugnissen ausgestattet ist, sahen viele eine reale Gefahr für die weitere Entwicklung unserer Demokratie. Wenigen war bisher bewusst gewesen, welche Macht mit diesem Amt verbunden ist. Die Kelsen'sche Bundesverfassung von 1920 war 1929 abgeändert worden, um den Bundespräsidenten mit mehr Macht auszustatten. In der Novellierung fand, mitten in den Wirren der Weltwirtschaftskrise, das Erstarken der autoritären Kräfte seinen Niederschlag. Der Bundespräsident ist nicht nur Oberbefehlshaber des Bundesheeres. Er kann Regierungen ohne Begründung abberufen und einsetzen, den Nationalrat auflösen, Notverordnungen (Standrecht!) erlassen, die Angelobung von Beamten, vor allem von Ministern verweigern und das Inkrafttreten von Gesetzen durch Unterschriftsverweigerung blockieren beziehungsweise zumindest verzögern. Damit ist seine Position nicht nur repräsentativ, sondern auch politisch höchst bedeutsam. Bisherige Amtsinhaber hatten in der Regel auf die Anwendung dieser weitgehenden Befugnisse verzichtet. In den zahlreichen TV-Konfrontationen der Kandidaten war schnell deutlich geworden, wie skrupellos, verachtend Norbert Hofer seine rhetorisch, manipulative Begabung einsetzte, um seine Gegner im Streitgespräch zu vernichten. Seine die politischen Kontrahenten verachtende Gefährlichkeit war unübersehbar. Berühmt-berüchtigt wurde seine Aussage während einer TV-Diskussion der Kandidaten bezüglich seines Amtsverständnisses: "Sie werden sich noch wundern, was alles möglich ist".Das wurde von seinen Gegnern durchaus als ernst gemeinte Drohung wahrgenommen, mit der österreichischen Realverfassung zu brechen und auf die Anwendung der weitgehenden Machtbefugnisse nicht zu verzichten. Erst jetzt wurde auch vielen konservativen Bürgerlichen klar, dass dem zarten Pflänzchen der österreichischen Demokratie ein rasches Ende drohen könnte. Die unverhohlene Begeisterung Freiheitlicher Politiker für die demokratisch notdürftig verbrämte Diktatur Putins in Russland, die autoritär gelenkte "Illiberale Demokratie" Viktor Orbans in Ungarn, für die religiös-autoritär gestimmten Versuche, Polens junge Demokratie dem russischen Modell Putins anzunähern und die Erfolge des rechtsradikalen Front National in Frankreich, war unübersehbar geworden.


Bei einem der selten gewordenen Treffen der alten Freunde machte ich, bewegt von der unserer jungen Demokratie drohenden Gefahr - wider alle Vernunft auf die "bürgerlichen Instinkte" der beiden Paare hoffend - den Versuch, sie von der Bedeutung dieser Wahl für die weitere politische Entwicklung unseres Landes zu überzeugen. Ich redete gegen eine Front der Ablehnung. Sprach ich mit Freunden? Wie so oft, wenn mir etwas auch emotional sehr wichtig war, argumentierte ich schlecht, wurde immer aggressiver und hätte wahrscheinlich auch andere nicht überzeugt. Der Abend wurde für mich ein Desaster. Ich wollte es vorerst nicht wahrhaben.


Ich unternahm danach noch einige vergebliche Versuche mit den alten Freunden wieder ins Gespräch zu kommen. Vor allem S. war sichtlich darum bemüht und zeigte Verständnis für meine Sorgen. Es war nicht zu übersehen, dass auch er um den Erhalt unserer Freundschaft rang. Letztlich fehlte mir aber die Bereitschaft zum Kompromiss. Da hatte sich über viele Jahre zu viel ungesagt Gebliebenes in mir aufgestaut, um den Erhalt unserer Beziehung nicht zu gefährden. Für mich war wohl die Stunde gekommen, keine Rücksicht mehr zu nehmen.


© 2019 ERIC STEINER: office@ericsteiner.at

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