Heimat (2020)
Mit dem Heimatbegriff habe ich mir immer schon schwer getan. Ex negativo gelingt es mir allerdings leichter, diesen aus unserer jüngeren Vergangenheit hoch belasteten Begriff zu fassen. Gefühle des Verlustes, des Schmerzes und der Verlassenheit, des Fehlens und der Leere. Ja, die gab und gibt es. Wenn ich aus der Distanz der Jahre zurück schaue, finde ich in allen Abschnitten meines Lebens diese Gefühle, aber auch Orte, wo es mir besser ging. So schließe ich daraus, dass Heimat wohl dort zu suchen sein wird, wo kein Mangel an gutem Leben herrscht. Was natürlich direkt zur Frage führt, worin denn nun gutes Leben bestehe.
Ich muss so um die vier oder fünf Jahre alt gewesen sein, als die Kinder des Betriebskindergartens der Fabrik, in welcher mein Vater arbeitete, im Sommer ins Niederösterreichische verfrachtet wurden, um dort Gewicht zuzulegen. "Verfrachtet" ist das angemessene Wort, denn die einzige Zuwendung, die ich dort erlebte, war das wöchentliche Abgewogen-Werden, um zu kontrollieren, wie viele Kilogramm man jetzt endlich zugenommen habe. Waren es Dekagramm, so musste man strengen Tadels gewärtig sein. In meinem Fall ging es eher um das anfängliche Abnehmen, denn mein Kummer war groß. In der Nacht lag ich, still vor mich hinweinend, in meinem Eisenbett am Rand des großen Schlafsaals im Ferienheim, in dem ich mich so gar nicht beheimatet fühlen konnte und sehnte mich nach Hause. Irgendwie muss ich mich dann doch an den erlittenen Mangel gewöhnt haben, denn in der Erinnerung blieben von diesem Aufenthalt Bilder vom Indianer-Spielen mit selbstgeschnitztem Pfeil und Bogen, vom Laufen im hohen Gras der heißen, sonnendurchtränkten Bergwiese, vom Jucken der Strohhalme am klebrigen, verschwitzten Rücken.
Mit Sieben ertrug ich die Trennung von der elterlichen Wohnung schon besser. Im Zug der Franz-Josefs-Bahn, gezogen von einer ins Abteilfenster herein stinkenden Dampflokomotive, ging es damals in die Hohe Tatra zum zweiwöchigen Ferienlager. Dies hatte mir mein Vater ermöglicht, damals noch ein ungebrochen, strammer Kommunist mit besten Beziehungen hinein in den obersten Parteikreis. Die Hinfahrt begann nicht vielversprechend, hatte ich doch auf der ungepolsterten, beigen Holzbank einen großen Burschen als Gegenüber, der seine ekelerregend nach altem Schweiß stinkenden Füße direkt neben meiner empfindlichen Nase platziert hatte. Wie es das Schicksal entschieden hatte, sollte er dann im Schlafsaal mein Bettnachbar werden. So lernte ich, dass man sich an vieles gewöhnen kann.
Natürlich verliebte ich mich gleich in ein wunderbares Mädchen mit dicken, langen, dunkelgelben Zöpfen, die am langen Esstisch auf der Holzbank neben mir saß und der ich von ihr verschmähte Essensreste abnahm. Denn auch hier ging es darum zuzunehmen, und daher hatten die Teller leer zu sein, bevor man aufstehen durfte. Die zwei Wochen vergingen mir viel zu schnell.
Ich erinnere mich nicht mehr, wie ich dann vom Bahnhof wieder nach Hause kam, eines aber steht mir noch heute deutlich vor Augen. In der Donaueschingenstraße, gleich ums Eck unseres Häuserblocks, gab es einen Hügel, wo ich das Rodeln erlernt hatte. Es war ein Erdhaufen, gut einen Meter hoch herangeböscht an einen Bretterzaun. Mehr nicht. Und ich meine, dass ich erst beim Vorbeigehen nach meiner Wiederkehr zum ersten Mal wirklich wahrgenommen habe, dass der Hügel bloß ein Haufen war. Alles hatte sich verändert.
Viel reiste ich nicht als Kind, das in der Zeit unmittelbar nach dem großen Krieg aufwuchs. Die Mittel waren knapp und Reisen Luxus. So musste mehr als ein Jahrzehnt vergehen, bis zur nächsten Trennung vom Zuhause. Gleich nach der Matura habe ich ein halbes Jahr in der Schweiz als Kellner in einem kleinen Hotel gearbeitet. Anfangs hatte ich niedere Küchendienste zu verrichten und brachte es bald darin zur Meisterschaft, die kostbar dünnen Weingläser auf Hochglanz zu polieren. Die maschinelle Ausstattung der großen Küche war spärlich, gemessen an heutigen Ansprüchen. Es gab nicht einmal eine Brotschneidemaschine, was zur Folge hatte, dass ich noch heute stolz darauf bin, Schwarzbrotscheiben mit völlig parallelen Schnittflächen produzieren zu können. Später lernte ich dann zu Servieren, das gleichzeitige Tragen von Tellern in einer Hand und das Balancieren großer, schwerer Silberplatten, von denen mir abends die Handgelenke schmerzten.
Spät abends nach Dienstschluss, war ich in den ersten Wochen froh, ungewaschen ins Bett zu fallen, oft reichte die Energie nicht einmal zum Händewaschen. Wenn ich Bardienst hatte, wurde es oft spät nach Mitternacht. Ich schlief in einer schmucklosen, staubigen Kammer, unter dem mit rohen Brettern verschalten Dach. Morgens hatte ich um sechs aufzustehen und wusch mich fröstelnd im kalten Wasser, um schnell wach zu werden, für das mir zugewiesene Vorbereiten der Frühstückstische. So ging das tagaus und tagein, Monat für Monat. Freizeit gab es kaum, denn die Pausen zwischen den Mahlzeiten wurden zum größten Teil ausgefüllt mit den Vorbereitungszeiten in der Küche. Die verbleibende Zeit war wohl auch zu knapp bemessen, um für mehr, als zur bloßen Regeneration zu reichen. Ich kann mich nicht erinnern, jemals weniger gelesen zu haben, als in jenen Tagen.
Nach einem halben Jahr hatte ich genug verdient und war froh das enge, sonnenlose Tal im Unteren Engadin verlassen zu können. Der letzte Arbeitstag war gekommen. Als ich mich von meinen Arbeitskollegen verabschiedete, wies mich einer von ihnen darauf hin, dass ich ja noch morgen Dienst hätte. Ich hatte mich im Datum geirrt und fiel aus allen Wolken. Der nachfolgende Arbeitstag schien mir endlos.
Danach bin ich meiner ersten Liebe nach London nachgereist, die sich dort als Au-Pair-Mädchen, bei am Hydepark wohnenden "Lords", verdingt hatte. Leider musste ich dort feststellen, dass so junge Liebe - als wir uns im Wiener Gänsehäufel kennengelernt hatten, war ich Sechzehn und sie Achtzehn - so schnell vergehen, wie aufflammen kann.
Ich wohnte bei einem Freund meines Vaters aus seiner Emigrationszeit, die er bis 1947 in England verbracht hatte. Die Familie Owen in Orpington, einem der vielen Vororte Londons, das nach allen Seiten weit ins flache Umland hinaus metastasiert, war nett. Das zweigeschoßige Reihenhaus, Teil einer unendlich lang erscheinenden Reihe völlig gleichförmiger Häuser mit dunkler Backsteinfassade, war klein und eng.
Ich hatte über Vermittlung des örtlichen Arbeitsamtes einen Job in der nahe gelegenen Elektrofabrik bekommen, wo ich Hilfsarbeiten im Schichtbetrieb verrichtete. Meine Aufgabe bestand darin, aus der Trockenkammer der Lackiererei an einer hochliegenden Förderkette herausfahrende Blechgehäuse von den Haken herunterzuheben und dann, ohne abzusetzen, zu einem immer höher werdenden Stapel aufzutürmen. Die Blechteile waren nicht schwer. Doch je näher das Ende meiner Schicht kam, desto mehr schmerzten die Oberarme von der immer wieder endlos wiederholten Hebebewegung.
Die Abendschicht begann um zwei Uhr nachmittags und endete um Zehn. Dazwischen aß man englisches Abendbrot in der Werkskantine. Zurück nach Hause in mein kleines Zimmer unter dem Dach gekommen, schlüpfte ich erschöpft und leicht frierend, unter die klammfeuchten, kühlen Laken. Ich schlief aber trotzdem gut, so wie es eben nur der Jugend gegeben ist. Morgens empfing mich die immer freundlich lächelnde Frau Owen in der engen, gemütlichen Wohnküche mit einem englischen Frühstück; mit Orangenmarmelade, Cookies und dem wunderbar duftenden Tee mit Milch, den ich später niemals mehr, so gut schmeckend, zu trinken bekommen sollte. Die Morgenschicht begann um Sechs, mitten in der feucht-nebeligen Düsternis einer englischen Vorstadt. Aber der Nachmittag und Abend waren frei. Ich war Achtzehn und die Beatles waren in aller Munde, im Kino spielte man James Bond, Liebesgrüße aus Moskau - ich aber hatte Liebeskummer. In der Fabrik fand ich keinen Anschluss, die Arbeiter sprachen ihr Cockney-Englisch, das ich kaum verstand, hatte doch unsere Englisch-Lehrerin immer größten Wert darauf gelegt, uns ein lupenreines Oxford-English beizubringen, oder zumindest das, was sie darunter verstand. Zu Hause im Owen'schen Reihenhaus war die Sprache nicht das Problem. Die Owens waren nett, kein Zweifel, aber eben nur nett. Im örtlichen Pub ging es mir wie in der Fabrik. An den Wochenenden fuhr ich nach London, streunte herum und fand keinen Anschluss. Ich war traurig und begann mich zurück nach Wien zu sehnen. Nichts hielt mich mehr zurück.
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