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Kindheit am Fluss (2021)

Heuer machte ich mit einem Freund einen Spaziergang auf der Donauinsel. Es war ein wunderbar sonnig-warmer Februartag. Nur einmal zuvor, in einem bereits lange zurückliegenden Sommer, war ich hier gewesen. Das rege, bunt gemischte Treiben von Jung und Alt, Halbnackten und Bekleideten, auf den zahlreichen Grill-, Spiel- und Badeplätzen hatte einen bleibenden Eindruck hinterlassen.


Dieses Mal war es anders. Wir starteten an der Reichsbrücke und gingen entlang des Flussufers stromaufwärts. Nur wenige nutzten diesen ersten strahlenden Frühlingstag nach der nebelig, düsteren Zeit eines langen Winters in der Großstadt. Einige vereinzelte Spaziergänger, Sonnenanbeter auf der sanften Uferböschung, halb hinter dem Astgewebe von Sträuchern verdeckt, hin und wieder Jogger und Radfahrer. Keine Wolke am Himmel, Windstille.


Am nördlichen Horizont zeichneten sich die zarten Silhouetten in der Raumtiefe gestaffelter, zahlreicher Brücken ab, die hier zwischen den transdanubischen Bezirken und der zentrumsnäheren Brigittenau den breiten Strom queren. Einige Meter vom Ufer entfernt Fischerboote, fest gegen die Strömung vertaut und über schmale Stege erreichbar. Jedes mit einer winzigen, kaum mannshohen, aus Brettern gefügten Hütte mit größeren, von Kragarmen ins Wasser absenkbaren Netzen davor. Das kannte ich von früher. Ich erinnerte mich.



Der Handelskai


Gegenüber, am Brigittenauer Ufer, dem Handelskai, fällt ein voluminöser, großer Bürobau mit Glasfassade auf, der mit seiner polygonalen Plastizität die nahezu geschlossene Gebäudefront von Wohnbauten am Kai unterbricht. Dort war früher das Freigelände meines Kindergartens, des Werkskindergartens der Fabrik in der naheliegenden Engerthstraße, in der mein Vater zuerst als Schweißer, und später, nach einem schweren Arbeitsunfall, als Magazinverwalter arbeitete. Mit bekletterbaren Obstbäumen im in meinen Augen riesigen Garten, einem Schwimmbecken, einem richtigen Fußballplatz und einem fürs Volleyball-Spielen.


Auch die vielen Wohnbauten hatte es damals in den 1950er-Jahren noch nicht gegeben. Viele der Lager- und Fabrikshallen am Kai waren im Bombenhagel der alliierten Bomberflotten zerstört worden. Es dauerte lange, bis diese Spuren des Krieges verschwanden. Die Abenteuerspielplätze meiner Kindertage waren die Ruinen und von Bombentrichtern zerpflügte Freiflächen dazwischen, die im Laufe der Jahre von Gestrüpp überwucht wurden. Die Freiheit der unbeaufsichtigt Spielenden wäre für heute Heranwachsende unvorstellbar.



Gefährliches Wasser


Die Winter meiner Kindheit waren zumeist schneereich und kalt. Ich erinnere mich an Tage, wo meine Volksschule am Allerheiligenplatz geschlossen blieb, weil sie für uns Kinder nicht erreichbar war. Der Schnee lag mehr als hüfthoch auf den Straßen und wurde nur auf den Hauptverkehrsadern der Stadt geräumt. Das störte wenig, denn Autos waren damals selten zu sehen und der Lastenverkehr wurde noch zum Teil von Pferde-Fuhrwerken bewältigt, die von schweren Pinzgauern gezogen wurden. Die Straßenräumung wurde nur händisch vorgenommen, denn Schneeräumfahrzeuge waren noch unbekannt - zumindest habe ich keine Erinnerung an solche. Woran ich mich aber sehr gut erinnere ist, dass viele Erwachsene die Gelegenheit nutzen, sich als Schneeräumer in der Nacht ein willkommenes Zubrot zu verdienen. Sie holten nach Einbruch der Dunkelheit die großen Schaufeln von den Sammelstellen des Magistrats, wo sie nach getaner Arbeit und Rückgabe der Geräte auch bar bezahlt wurden. Die Arbeitslosigkeit in diesen Nachkriegsjahren war noch relativ groß, die Zeit der blühenden 60er- und 70er-Jahre mit Hochkonjunktur und Vollbeschäftigung noch ferne. Wie schwer diese Arbeit war, weiß ich aus der Erzählung eines Schulfreundes aus dem Realgymnasium, der sich so sein Taschengeld aufgebessert hatte. Das muss im Winter 1957/58 gewesen sein, denn er war ein Jahr älter als ich, und daher über 14, weshalb er, gemäß der damals geltenden Jugendschutzbestimmungen, nach Einbruch der Dunkelheit auf der Straße sein durfte.


Alljährlich gab es im Kindergarten ein Faschingsfest, an dem auch wir Volksschüler aus den Hortgruppen, teilnahmen. Der Winter war hart gewesen und das Flusswasser entlang der Ufer teilweise zugefroren. Auf der Donau trieben vereinzelte Eisschollen, die sich an manchen Uferstellen zu kleinen Eisstößen übereinander geschoben hatten. Das hatten wir Kinder von den Erwachsenen gehört und unsere Neugierde angestachelt. Meinem Freund Sepperl und mir war langweilig auf dem Fest und so beschlossen wir "Eisstoß-Schauen zu gehen. Wir schlichen uns weg. Damit es niemandem auffällt, so wie wir waren, ich als Seeräuber kostümiert, im grün-weiß gestreiften Ruderleiberl, mit Turnschuhen und - Gott sei Dank! - langer Hose, den Holzdolch im Gürtel, er im Indianerkostüm. Das naheliegende Ufer war schnell erreicht, waren doch nur die an das Kindergartengrundstück anschließende Wehli-Straße und der Handelskai mit den Bahngleisen zu queren. Tatsächlich hatten sich hier größere Platten ineinander verkeilt. Sepp als der Mutigere sprang als erster auf eine Eisscholle, ich folgte nach. Unsere Aufregung war groß.


Unser Wegschleichen war, wie sich dann herausstellen sollte, doch aufgefallen. Mein waghalsiger Ausflug endete im Bett mit Wärmeflasche und heißem Spitzwegerich-Tee. Der Schrecken meiner Mutter war groß, sodass sie vorerst auf Bestrafung vergaß. Die folgte erst später.


Seit jeher schon gab es, auch nach der großen Donauregulierung im 19. Jahrhundert, Hochwasser in Wien. Ich erinnere mich daran wie mein Vater davon erzählte, dass in den nahe zum Fluss liegenden Gemeindebauten an der Wehli-Straße die Keller vollgelaufen wären und die kleinen Holzkähne der Stromaufsicht die hoch überflutete Straße entlanggefahren seien. Das war noch in meiner Volksschulzeit. Später erfuhr ich dann, dass dieses große Hochwasser den Anstoß gegeben hatte für die Neukonzeption des Wiener Hochwasserschutzes. Das Ergebnis war die Beseitigung des fast einen halben Kilometer breiten Überschwemmungsgebietes - das ein wichtiger Ort meiner Kindheit war - und der Bau der Donauinsel mit dem begleitenden Entlastungsgerinne.



Sommerliche Familienausflüge ins Überschwemmungsgebiet


Auch in meiner Kindheit gab es heiße Sommertage. Von "Erderwärmung" wussten wir damals noch nichts und mit "Klimakatastrophe" konnten nur die relativ häufigen, heftigen Sommergewitter gemeint worden sein, deren mit Naturgewalt niederprasselnder Platzregen mich manchmal vom Fußballplatz oder aus dem Freibad vertrieb. Aber vielleicht überschätze ich die Häufigkeit der Unwetter. In meiner Erinnerung kam ich gar nicht so selten von Kopf bis Fuß durchnässt zuhause an - ich legte damals fast alle Wege zu Fuß zurück, jedenfalls mehr als heutzutage.


Öffentliche Bäder gab es nur wenige und diese waren noch dazu weit entfernt beziehungsweise an heißen Wochenendtagen heillos überfüllt. In dieser Hinsicht waren wir privilegiert, lag doch die Donau in der Nähe und zu Fuß leicht erreichbar. Das zentrumsnähere Ufer mit seiner steilen Böschung war an solchen Tagen dicht bevölkert, für den Geschmack meiner Eltern allzu sehr, war doch der Grünstreifen zwischen den nahen Gleisen der Donauufer-Bahn und dem Wasser zu schmal für die Menge der Abkühlung Suchenden.


Ganz anders am jenseitigen Ufer. Dort lag das mir damals endlos breit erscheinende, bis hinter den Horizont reichende Überschwemmungsgebiet der Donau. Für uns Brigittenauer war es über die Floridsdorfer Brücke, nach einem gut halbstündigen Marsch erreichbar. Dort verbrachte meine Familie die heißen Sommer-Sonntage. Die Samstage fielen für solche Ausflüge aus, arbeitete man doch damals in den Fabriken auch an den Samstag-Vormittagen.


Wir brachen immer erst gegen ungefähr 11 Uhr auf - viel zu spät für mein Dafürhalten - da mein Vater den frühen Vormittag mit dem Austragen der "Volksstimme", der Parteizeitung der Kommunisten, und dem Einsammeln von Mitgliedsbeiträgen beschäftigt war. Das Austragen der Zeitung habe ich dann etwas später übernommen und mir damit etwas zum Taschengeld dazuverdient. Der späte Aufbruch und halbstündige Marsch in der schattenlosen Mittagshitze, beladen mit Getränken und Proviant für den ganzen Tag, Liegedecken und einer von meinem Vater zusammengebastelten Sonnenschutzkonstruktion, steigerte die Sehnsucht nach Abkühlung. Am Ende musste nur mehr auf der Floridsdorfer Brücke der Strom gequert werden. Knapp beim Ufer gab es ein Treppenhaus, das den Abstieg zum Überschwemmungsgebiet ermöglichte. Die Stiegen waren verborgen in einem mächtigen, steinernen Pylon. Noch geblendet vom gleißenden Mittagslicht, empfing uns drinnen tiefe Dunkelheit, nur spärlich aufgehellt über schmale, schießschartenartige Öffnungen in den dicken Mauern. Und herrlich erfrischende Kühle. Aber nicht nur. Denn hinuntersteigend, verdichtete sich ein ekliger Gestank nach Urin und Fäkalien. Daran habe ich mich nie gewöhnt. Trotzdem. Mich zurückerinnernd war es wie eine Schwelle, die man überwinden musste, um in eine verheißungsvolle, fremde Welt eintreten zu dürfen.


So dunkel-eng-stickig-stinkend der Abstieg von der Brücke war, so immer wieder überraschend hell duftend war die mich erwartende, unübersichtliche Weite der von mannshoch aufschießendem Riedgras bedeckten Ebene. Zu Viert im Gänsemarsch suchten wir für uns einen Lagerplatz nahe am Wasser, aber nicht zu nahe, denn dort lagerten viele, und meine Eltern wollten für sich bleiben. Vorne ging mein Vater auf einem körperschmalen, aber gut ausgetretenen Pfad, ich als letzter. Das dauerte, denn die dicht stehenden Halme verbargen so manche früher Gekommene, die man, wenn sie nicht gerade sehr laut sprachen oder ein Transistorradio eingeschaltet hatten, zumeist erst im letzten Augenblick bemerkte. Auch das beständige Rauschen der windbewegten Gräser förderte dieses Verbergen. Wenn sich unser Weg so als Sackgasse erwiesen hatte, mussten wir oft umkehren und nach einer der zahlreichen Abzweigung suchen, oder mein vorausgehender Vater bahnte, ungeduldig geworden, eine neue Schneise ins hohe Gras, wo wir dann, in einigen Metern Abstand zum verlassenen Pfad, die Halme niedertretend, einen komfortabel breiten Liegeplatz für uns schufen.


Im Laufe eines jeden Sommers entstand auf diese Weise ein von den Abgeschiedenheit Suchenden geschaffenes, immer dichter werdendes, labyrinthisches Netz aus engen Wegen und flachen, im weiten Grasmeer verborgenen Ruheplätzen. Die Unübersichtlichkeit wurde auch durch zahlreiche Bombentrichter und dazwischenliegende, von der hoch aufgeworfenen Erde geformte Hügel gemehrt. Hier hatten die Bomberflotten mit Fehlwürfen, welche die Kaianlagen am gegenüberliegenden Ufer gemeint hatten, ihre Spuren hinterlassen.


Inzwischen war es oft brennend heiß geworden in der windgeschützten Kuhle. Ich half meinem Vater beim Einrichten seiner Sonnenschutzkonstruktion. Das Auflager bildeten vier in den Boden gerammte Metallstäbe mit jeweils zwei darübergelegten Seilen, die schräg zu im Abstand in die Erde geschlagenen Heringen gespannt wurden. Als Dach darüber ein weißes Leintuch. Darunter war Platz für uns alle.


Dann suchten wir das Ufer, während meine Mutter das Picknick herrichtete. Meine um vier Jahre ältere Schwester war die einzige unserer kleinen Familie, die schwimmen konnte. Ich sollte das erst mit Zwölf erlernen, im nicht weit entfernten "Gänsehäufel", einem riesigen Freibad am stehenden Gewässer der Alten Donau, einem Nebenarm des Flusses. Dort erlernte ich es wie von selbst. So begnügten mein Vater und ich uns damit im hüfthohen, mit großer Kraft dahinfließenden Wasser zu stehen auf der steil abfallenden, mit kindskopfgroßen Steinen gesicherten Uferböschung - und meiner Schwester hinterdrein zu schauen, die rasch davongetragen wurde. Tiefer hineinzugehen wagte mein Vater nicht, war doch die Strömung am Ufer noch so reißend, dass dort auch Erwachsene kaum sicher auf dem glatten Geröll des Grundes stehen konnten. Das Wasser war eisig kalt. Später erfuhr ich, dass die Temperatur auch im Hochsommer nur selten über 16 Grad stieg.


Am Ende meines ersten Sommers an der Donau waren sich offenbar meine Eltern darin sicher, dass ich die Gefahren des reißenden Wassers ausreichend einzuschätzen wüsste. So durfte ich dann auch alleine zum Flussufer gehen. Dort hockte ich stundenlang auf den Steinen und beobachtete die elegant stromabwärts lautlos vorübergleitenden Schiffe. Am meisten beeindruckten mich die unter stampfendem Maschinenlärm sich stromaufwärts hochkämpfenden, flachen Schlepper mit ihren langen, angehängten Lastkähnen. Sie sandten tiefgefurchte, breite Wellenbatterien aus, die Minuten später danach, schräg auf mich zulaufend, mächtig gegen die Ufersteine anschlugen. Das Wasser beruhigte sich erst, wenn sie schon längst hinter der Brücke verschwunden waren.


Damals hatte ich noch Angst vor dem Wasser. Dazu hatte wohl auch meine Mutter ein wenig beigetragen. Bei einem ihrer Einkäufe beim Greißler im Nebenhaus hatte sie gehört, die Geschäftsleute aus dem anschließenden Gassenlokal - ein junges Ehepaar - wären in der Donau beim Kajak-Fahren in der Nähe von Klosterneuburg ertrunken. Sie seien in die von einem rasch flussabwärts fahrenden Schiff aufgeworfenen Wellen geraten und umgekippt. Ihr kleines Baby wäre auch dabei gewesen und natürlich auch umgekommen. Wie auch immer der Wahrheitsgehalt dieser Katastrophengeschichte gewesen sein mag. Vielleicht hat meine Mutter die Erzählung auch ein wenig aufgebauscht, um meine Vorsicht zu verstärken. Das ist ihr gelungen. Erst später, als ich Schwimmen gelernt hatte, sollte diese Angst weichen.


Aber es gab auch angenehm harmloses Wasser. Stromaufwärts, jenseits der Floridsdorfer Brücke lag ein kleiner Teich, mitten im Überschwemmungsgebiet. Eine bubenknietiefe, mir ziemlich groß erscheinende Lacke, der Boden bedeckt mit einer dicken Schlammschicht. Das "Zinkerbachl", die Reste eines größtenteils verlandeten und von oberflächiger Wasserzufuhr abgeschnittenen, alten Donauarms. Dort sammelten sich viele Kleinkinder, aber auch Halbwüchsige. Am schmalen, sanft absinkenden Uferstreifen ruhten eng gedrängt Erwachsene auf den mitgebrachten Decken und Handtüchern. Manche unter aufgespannten Regen-, oder Sonnenschirmen, viele Frauen in rosafarbenen, glatt glänzenden Unterkleidern, der sogenannten "Kombineige", wie das die feineren Leute aus den besseren Bezirken nannten. Bei uns hieß das "Kombinesch". Die Männer so wie die Buben in der ebenso für diese Zeit charakteristischen, aus schwarzem, glatten Stoff gefertigten halblangen, oft an den Schenkeln klebenden, faltenwerfenden "Klott-Hose". In dieser ärmlichen Nachkriegszeit gab es für die Bevölkerung aus den flussbegleitenden Arbeiterbezirken Floridsdorf und Brigittenau noch keine Bademode. Erst etwas später sollte sich das ändern.


Wer Einsiedegläser mitgebracht hatte, konnte Kaulquappen aus dem trüben Wasser schöpfen. Ein älterer Bub erzählte den Kleinen, man könne gefangenen Fröschen einen Strohhalm in den Po schieben, hineinblasen und ihn damit zum Platzen bringen. Das war aufregend grauslich, selbst gesehen hatte ich das zu meinem Bedauern allerdings nie. Die meiste Zeit lagen wir aber träge in der Sommerhitze herum oder saßen im Wasser und bauten Schlammburgen, was gar nicht so leicht war, weil man den wässrigen Brei zuerst an der Sonne etwas antrocknen lassen musste, um die geeignete Konsistenz zu bekommen. Es war aber nicht immer ruhig. Legendär waren die Schlammschlachten am "Zinkerbachl" zwischen sich spontan bildenden Kindergruppen. Danach die sich rasch bildende, harte Kruste von der Haut herunter zu bekommen, war gar nicht so einfach, denn das aufgewühlte, schmutzige Wasser war dazu nicht mehr geeignet. Das musste man sich am Donauufer holen oder unter der Floridsdorfer Brücke. Am letzen Brückenpfeiler, nahe der das Überschwemmungsgebiet begrenzenden hohen Böschung, gab es frisches Leitungswasser, mit dem wir auch den uns ständig plagenden Durst löschen konnten. Dort führte ein dünnes Rohr von der Brückenunterseite nach unten und endete in einem Hahn, der leider nicht mit einem Hebel oder einem zu drehenden Rad zu öffnen war. Um ihn zu öffnen, musste ein messingfärbiger, großer Druckknopf niedergedrückt werde. Dann schoss das Wasser mit heftigem Strahl horizontal aus der Leitung. Der Druck war nicht regulierbar und die Kleineren brauchten beide Hände, um den Knopf, gegen die Federspannung pressend, niedergedrückt halten zu können. Wenn man losließ, war das Rohr sofort verschlossen. So brauchte man immer einen Zweiten, um trinken oder sich waschen zu können. Beides war mühsam und dauerte immer lange. An dieser Wasserstelle standen immer viele in langer Schlange angestellt.


Am "Zinkerbachl" habe ich mir auch meinen ersten Sonnenbrand am Rücken geholt und damit auch schlaflose Nachtstunden eingehandelt. So etwas wie eine Sonnenschutzcreme kannten wir damals noch nicht. Es gab zwar die Nivea-Creme, die sich manche Erwachsene - zumeist Frauen - dick auf die Haut schmierten. Die wenigen, die das in Kauf nahmen, saßen dann mit ihren grotesk maskenhaft weißen, in die Sonne gereckten Gesichtern in ihrer rosa "Kombineige" herum. Wir Kinder fanden das ziemlich komisch. Später wurde Nivea vom braunen Nussöl und "Biz Buin" abgelöst, die angeblich besser schützten.



Das Flugfeld


Windstille gab es selten im Überschwemmungsgebiet. Meist bliesen auch im Sommer beständige Nordwestwinde, welche die erhitzte Haut angenehm kühlten. Viel weiter stromaufwärts konnte man an solchen Tagen riesige, weiße Vögel mit weit ausgebreiteten Schwingen sehen, die über dem Horizont ihre Kreise zogen. Es waren Segelflugzeuge, welche die Aufwinde an der steil zum Fluss abfallenden Flanke des Leopoldsberges nutzten, um sich immer höher und höher in den klaren Himmel zu schrauben. Dort, ungefähr auf der Höhe von Klosterneuburg, gab es, wie ich später von einem Schulfreund erfuhr, das Flugfeld eines Segelfliegervereins. Älter geworden, bin ich öfter alleine stromaufwärts marschiert, um das Landen und Aufsteigen zu beobachten.


In der dritten Klasse meines Brigittenauer Realgymnasiums bekamen wir einen neuen Mitschüler, der um einiges älter war als wir. Er fehlte oft und hatte wohl andere Interessen, als solche an guten Noten, was dazu führte, uns nach einem knappen Jahr wieder verlassen zu müssen. Er sprach wenig mit uns, aber das was er erzählte war spannend. Sein Hobby war das Segelfliegen. Ich glaube mich daran zu erinnern, dass er das von seinem Vater erlernt hatte.


Ich freundete mich ein wenig mit ihm an und erfuhr etwas mehr von ihm. Der Flugplatz von dem sie aufstiegen war genau jenes Feld, das ich Jahre zuvor erkundet hatte. Damals hatte ich mir nicht erklären können, wohin die Flugzeuge verschwunden waren, wenn ich wieder einmal stromaufwärts gewandert war und zu meiner Enttäuschung, bis auf eine einsam auf der verlassenen Wiese zurückgebliebene Motorwinde, dort alles leer vorgefunden hatte. Später löste sich mir das Rätsel auf. Die Flügel und Plexiglaskuppel konnten einzeln vom Rumpf gelöst werden. Alle Teile waren so leicht, dass sie zu Zweit auf den großen Anhänger eines Landrovers gehoben werden konnten. Nach dem Fliegen war die Demontage in einer knappen Stunde erledigt und alles auf den Anhänger gepackt. 


Meine Mitschüler schenkten seinen Erzählungen zumeist wenig bis gar keinen Glauben und so war es naheliegend, ihn "Luftikus" zu nennen, was wir nicht nur wegen seines "Fliegerlateins" lustig fanden, hieß er doch mit seinem vollen Namen Walter Luft.



Der Strom


Mit Zwölf hatte ich mir im Strandbad Gänsehäufel an der Alten Donau das Schwimmen beigebracht. Das war spät, aber früh genug mir neue Dimensionen zu erschließen. Von da an verbrachte ich viel Zeit am Strom. Jetzt, da ich diese Zeilen schreibe, erinnert mich der leise, diskret im Hintergrund bleibende, hell singende Dauerton meines Tinnitus, der zum häufigen Begleiter meiner späten Jahre geworden ist, an das Schwimmen im Strom. Da kam ein zartes, angenehm hypnotisierendes, einlullend gleichmäßiges Geräusch aus der Tiefe. Erzeugt vom gegeneinander Gerieben-Werden glatt- und rundgeschliffener Steine, dem Geschiebe an der Sohle des kraftvoll fließenden Wassers: Der Gesang des Flusses.


Anfangs begnügte ich mich noch damit, nicht weit hinauszuschwimmen und das herrliche Gefühl zu genießen, von der Kraft des Stromes getragen zu werden. Links das rasch vorbeiziehende Ufer. Rechts eine gewaltige Weite - und vor mir, früher als gedacht, immer schneller sich nähernde Brücken. Das Wohlgefühl im Wasser verführte leicht dazu, es nicht enden lassen zu wollen. Ratsam war das allerdings nicht, denn der Weg auf den gewundenen, schmalen Pfaden zurück zu meinen im hohen Riedgras abgelegten Kleidern konnte weit werden. Zu weit für bloße Füße.


Draußen in der Mitte des Flusses sah ich manchmal Jugendliche, welche die Bugwellen sich stromaufwärts kämpfender Schleppschiffe suchten. Wie hoch die Wellen sich aufwölbten erkannte man erst an den wild bergauf und bergab tanzenden Köpfen. Damals befuhren vereinzelt auch Raddampfer die Donau, deren Schaufeln die Wassermassen besonders eindrucksvoll aufschäumen ließen. Manche der Schwimmer schafften es ihnen so nahe zu kommen, dass sie von den gewaltigen Wellen hoch empor geschleudert wurden. Es ihnen gleich zu tun, fehlte mir der Mut. Allerdings wagte ich mich mit zunehmender Sicherheit immer weiter hinaus. Das war nicht weiter schwer und lustvoll, wenn man in Kauf nahm, dabei weit abgetrieben zu werden. Mühsam allerdings konnte der Weg zurück ans Ufer werden, denn da war die Kraft der Strömung zu spüren. Das schräge Anschwimmen gegen den Strom musste ich oft aufgeben, wenn ich mich zu weit hinaus gewagt hatte. Dann blieb nur über, nicht mehr gegen, sondern mit dem Fluss zu schwimmen und damit kräfteschonend, aber weit abgetrieben, das Ufer zu erreichen.



Die Donaubrücken


1976 stürzte die alte Reichsbrücke in den frühen Morgenstunden eines anbrechenden Augusttages in den Fluss. Die Stadt hatte noch geschlafen. Nur zwei Fahrzeuge hatten sich auf der Brücke befunden. Eine der weltweit bemerkenswertesten und größten Kettenbrücken hatte ihr gewaltsames Ende gefunden. Nicht die Sprengsätze der sich zurückziehenden Wehrmacht - wie das bei der benachbarten Floridsdorfer Brücke geschehen war - hatten sie zerstört, sondern ein nachgebendes Auflager.


Die beiden riesigen, hängenden Kettenbögen, von denen unzählige, armdicke, die Fahrbahn tragende Spannseile abgehängt waren, querten in einem einzigen, eleganten Schwung den 280 Meter breiten Strom. Sie wurden von zwei hoch aufragenden, mächtigen, portalartigen Stahlrahmen getragen. Um nicht unter der gewaltigen Last zur Mitte des Flusses zu kippen, waren die Ketten uferwärts abgespannt, wo sie zur Reduktion der enormen Zugkräfte mit den Enden des auskragenden Fahrbahntragwerks verhängt worden waren. Das Konstruktionsprinzip war einfach und auch Laien einleuchtend.


Als ich etwas älter geworden war, hatte das riesige Gelände des "Gänsehäufels" dem Überschwemmungsgebiet allmählich den Rang abgelaufen. An die Donau ging ich nur mehr, wenn ich wenig Zeit hatte - war doch der Weg ins Gänsehäufel wesentlich weiter - oder wenn ich wieder Lust aufs Schwimmen im Strom hatte. Ins Strandbad fuhr ich mit der Straßenbahn, dem 25er, der die Brücke querte. Die Reichsbrücke liegt genau auf einer bedeutsamen Stadtachse, welche ausgehend von der Höhe der Schönbrunner Gloriette bis tief in den Norden Wiens reicht. In ihrer Mitte liegt der Stephansdom mit seinem weit die Stadt überragenden Südturm. Wenn ich aus dem Bad wieder nach Hause fuhr, suchte ich immer ganz vorne im Triebwagen, gleich hinter dem Zugführer, einen Platz zu ergattern. In den alten Straßenbahnen war der Fahrer noch nicht in einer separierten Kabine vom Fahrgastbereich abgeschieden. Die Trennung erfolgte nur durch eine simple Messingstange. Man konnte so unmittelbar dicht hinter ihm stehen und ihn beim Bremsen, das über das schnelle Drehen einer Handkurbel erfolgte und beim Hinauf- und Hinunterschalten beobachten. Das war aber nicht der Grund, weshalb ich immer diesen Platz bevorzugte.


Die Fahrbahn der Reichsbrücke stieg, vom stadtfernen Rand des Überschwemmungsgebietes ihren Ausgang nehmend, in einer sanften Wölbung zu beachtlicher Höhe über dem Strom an, um dann wieder zur Stadt allmählich abzusinken. Ich wartete immer gespannt auf den Augenblick, wenn die Spitze des Stephansdomes, allmählich über der Kuppe der Fahrbahn langsam aufsteigend, immer deutlicher in ganzer Gestalt sichtbar wurde, bis schließlich der ganze Dom gerahmt, mittig im hohen Stahl-Portal-Rahmen der Kettenbrücken-Konstruktion stand. Ein spektakulärer Anblick, der mir noch heute vor Augen steht. An klaren Westwettertagen konnte man in der Ferne, genau in der Stadtachse, winzig klein am Horizont die Gloriette erkennen.


Meiner Erinnerung misstrauend, las ich im Google Daten zur Brücke nach. Dabei habe ich entdeckt, dass der mir wegen seiner Neigung zum  Monumentalen immer leicht "verdächtige" Architekt Clemens Holzmeister in den Bau der verschwundenen Kettenbrücke eingebunden gewesen ist. Der Entwurf ist das Ergebnis eines Planungswettbewerbes gewesen, dessen Jury von Holzmeister in architektonischer Hinsicht beraten worden ist. Vielleicht ist daher die klar lesbare, mich so nachhaltig beeindruckende Baugestalt, vor allem aber die beschriebene monumentale Wirkung, auf den Jugendlichen nicht ganz zufällig gewesen.


Auch die alte Floridsdorfer Brücke ist verschwunden. Sie ist nicht eingestürzt, sondern - wenn man so will - ein Kollateralschaden der Reichsbrückenkatastrophe. Danach wurden alle Wiener Stahlbrücken eingehend untersucht und die Floridsdorfer für gefährdet befunden. Ganz anders als die Reichsbrücke, die 1937 ganz bewusst als ein Repräsentationsbau des Ständestaates errichtet worden war, ist diese Brücke ein reiner Zweckbau gewesen. Die vor den anrückenden Sowjettruppen flüchtenden Wehrmachtsverbände, hatten sie noch in den letzten Kriegstagen gesprengt. Danach wurde sie wieder hergestellt und 1947 in Betrieb genommen. Die Brücke mit ihren vier großen Bögen war nicht schön, aber in ihrer Art prägnant, ja unverwechselbar anders als alle anderen Wiener Flussquerungen.


Meine frühesten Erinnerungen an sie sind nicht angenehm. Im Kindergarten hatte ich gehört, man müsse darauf achten, nicht im Gleichschritt mit anderen über Brücken zu gehen. Diese gerieten dadurch in Schwingungen. Wenn eine Kompanie Soldaten dort marschiere, wäre die Gefahr einzustürzen groß. Dem schenkte ich zwar keinen Glauben. Aber so ganz spurlos ging dieses "Schauergeschichtl" - wie das mein Vater, meine ängstliche Nachfrage knapp kommentierend meinte - nicht an mir vorüber. So ertappte ich mich bei unserem sonntäglichem Weg über die Brücke zum üblichen Liegeplatz im Überschwemmungsgebiet dabei, wie ich versuchte den Gleichschritt zu vermeiden. Das fiel auf. Auch der Blick hinunter, zwischen den Gitterstäben des Geländers auf das tief unten fließende Wasser, war etwas, was ich anfangs mied. Aus der Mitte der breiten Gehsteige stiegen jeweils vier mächtige, grün gestrichene, stählerne bogenförmige Tragwerke, meinem Blick Halt gebend, haushoch hinauf gegen den Himmel.


An manchen Tagen konnte man Jugendliche sehen, die über das Brückengeländer kletterten und hinunter in den Strom sprangen. Einige Wagemutige fanden sich immer, die andere übertreffen wollten und vom Gehsteig weg hoch hinauf auf die Bögen kletterten. Das war gefährlich. Wenn ich heute Fotos der alten Brücke betrachte sehe ich, dass die Scheitel der Bögen gut 30 Meter über dem Wasser lagen.



Epilog


Die Brücken meiner Kindheit und das Überschwemmungsgebiet sind verschwunden. Heute quert an Stelle der alten, eleganten Reichsbrücke ein leicht aufgewölbtes, dickes Betonbrett den Fluss. Auch sie ist wie die alte Kettenbrücke Ergebnis eines Planungswettbewerbes gewesen. Angeblich war der prämierte Entwurf unschlagbar billig. Für die Floridsdorfer Brücke machte man sich erst gar nicht die Mühe, nach dem besten Entwurf zu suchen. So sieht sie auch aus. Stolz wurde bei der Eröffnung verkündet, dass sie in Rekordbauzeit errichtet worden sei; besseres war über sie nicht zu sagen. Auch die Brückenspringer sind verschwunden. Heute würde sofort die Polizei gerufen werden, damals lockten die Wagemutigen sie bewundernde Zuschauer an.


Aber nicht alles Verschwundene bedeutet mir Verlust. Das Überschwemmungsgebiet wurde durch die Donauinsel ersetzt. Hier ist ein wunderbar differenzierter Grünraum entstanden, dessen einziger, naturgemäß unvermeidbarer Mangel - wenn man das überhaupt als solchen sehen möchte - darin besteht, dass es dort kaum Zufälliges, Ungeplantes gibt. Aber es wird sicher nur eine Frage der Zeit sein, bis natürliches Wachstum, das Menschengemachte überwuchernd, die Insel in ein Stück Natur verwandelt haben wird. Dort werden Kinder zwar andere Erfahrungen, aber ebenso nachwirkende sammeln, wie ich es tat im verschwundenen Überschwemmungsgebiet der Donau.

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