Studienzeit (2017)
Ich begann mein Studium an der TU Wien eher zufällig, ohne wirkliche Vorstellung, welchen Weg ich da beschritten hatte. Es ging mir wohl eher darum, ein Studium zu beginnen, um meine Eltern nicht zu enttäuschen. Als Arbeiterkind ein Gymnasium, geschweige denn eine Universität zu besuchen , war im Österreich der 1950er-Jahre keine Selbstverständlichkeit. Zwar gab es im von der bildungsaffinen Sozialdemokratie bestimmten Wien eine Befreiung vom Schulgeld und ein Stipendium während des Besuchs der Oberstufe, das zwar klein war, aber doch meinen Eltern half. Ich besuchte das Realgymnasium in der Brigittenauer Unterbergergasse. Wie ich später erfuhr, gab es damals an der doch recht großen Schule, neben mir, nur einige wenige "Arbeiterkinder".
Im Rückblick erkenne ich, wie schlecht ich auf den Eintritt in die universitäre Welt vorbereitet gewesen war. Alles wirkte unübersichtlich und verwirrend groß auf mich, mir fehlte jede Orientierung. Damals, als ich 1964 mein Studium begann, waren an der Technischen Universität über 1200 Architektur-Studenten inskribiert. Die Hörsäle der wichtigsten Vorlesungen waren völlig überfüllt. Den Vorträgen in den schlecht bis gar nicht ausreichend belüfteten Räumen zu folgen war mühsam. Skripten gab es kaum, man war auf die mehr oder weniger vollständigen Aufzeichnungen von Kollegen angewiesen oder musste selbst präsent sein.
War ich in der Oberstufe der Mittelschule so manchem meiner Professoren durch mangelnden Eifer unangenehm aufgefallen, so stürzte ich mich jetzt umso mehr, mit all meiner brachliegenden Energie, in diese fremde Welt, die sich mir nur allmählich aufschließen sollte. Im damaligen Studienplan war im ersten Abschnitt das Absolvieren vieler theoretischer Fächer vorgesehen. Allerdings war die Zusammenstellung der Lehrveranstaltungen letztlich frei wählbar, das ganze Studium noch nicht so verschult wie heute. Das kam mir entgegen, da ich schon bald nach den ersten Semestern arbeiten gehen musste, um das Studium zu finanzieren. Mein Vater war 1966 - allzu früh – unerwartet verstorben. Meine um vier Jahre ältere Schwester war schon längst aus der elterlichen Wohnung ausgezogen, sodass die schmale Witwenpension zwar nur für zwei Personen reichen musste. Trotzdem war bei uns “Schmalhans Küchenmeister“;das Haushaltsbudget musste aufgebessert werden. In jenen Jahren blieb wenig freie Zeit neben dem auf das Notwendigste reduzierten Aufwand für das Studium, da ich stundenweise in verschiedenen kleinen Architekturbüros arbeitete. Dass ich in jener Zeit auch in den Ferien lange Reisen unternahm, reduzierte zusätzlich die für das Studium verbleibende Zeit.
Eine dieser Reisen führte mich 1969, in meinem letzten Studienjahr, gemeinsam mit meinem Freund Christoph nach Griechenland und dann mit der Autofähre weiter nach Israel. Ich fand Arbeit in einem Tel Aviver Architekturbüro, Christoph im Planungsamt der gleichen Stadt. Wohnen konnte ich bei meinem Onkel Jula, in seinem kleinen Siedlungshaus in Raanana. Bald sollte ich die weitverzweigte jüdische Verwandtschaft kennenlernen und erfuhr staunend, welche überragende Rolle - zumindest für die ältere Generation der europäischen Einwanderer - die Familie im Leben dieser Menschen spielt. So nahm ich einmal an einer traditionellen Hochzeit teil. Da waren gut hundertfünfzig Personen anwesend. Auf meine Bemerkung, dass die sich Vermählenden wohl einen sehr großen Bekanntenkreis hätten, antwortete mein Onkel trocken: "Alles Verwandte". Erst durch mein insistierendes Weiterfragen wurde klar, dass auch Verwandtschaftsbeziehungen zählten, welche hierzulande, dank ihrer "homöopathischen" Verdünnung, wohl weit unter die Aufmerksamkeitsschwelle gesunken wären.
Onkel Jula war noch knapp vor dem "Anschluss Österreichs" über Italien die Flucht nach Israel gelungen. Er hatte Arbeit im "Kibbuz Shaar Hagolan", am Fuß der Golan-Höhen, an einem der heißesten Orte des Landes gefunden. Dort lernte er seine spätere Frau Elisabeth kennen, die auf einem Immigrantenschiff ins Land gekommen war. Mit ihr sollte er dann drei Söhne haben, Zevi, David und Gili.
Die ersten Jahre der kleinen Familie waren entbehrungsreich. Trotzdem liebten sie, als überzeugte, zionistische Sozialisten, ihr neues Leben im Kibbuz. Sie wohnten im Zelt, Jula verdiente den Lebensunterhalt anfangs als "Straßenpflasterer", später als Installateur. Ihr mittlerer Sohn, mein Cousin David, war am ersten Tag des "Sechs-Tage-Krieges", zwei Jahre vor meinem Besuch, getötet, der älteste Sohn Zevi danach am Golan schwer verwundet worden. Diese Ereignisse hatten die Familie schwer traumatisiert. Dem Jüngsten, Gili, sollte es, wie sich dann später zeigte, nie mehr gelingen, den Tod seines geliebten und bewunderten Bruders zu verarbeiten . Zahlreiche Krisen führten immer wieder zu langen Aufenthalten in psychiatrischen Kliniken. Er sollte nur 62 Jahre alt werden.
Christoph und ich bereisten das gesamte, nach dem Sechs-Tage-Krieg durch die besetzten Gebiete doch wesentlich vergrößerte Land. Die früher gültige, witzig gemeinte Frage, mit der Touristen in Israel rechnen mussten, wenn sie den Wunsch äußerten, das ganze Land bereisen zu wollen, "was sie denn anschließend am Nachmittag machen wollten", war obsolet geworden. Dieser Witz hatte aber auch deshalb seine Berechtigung verloren, weil es jetzt im Land praktisch keine Touristen mehr gab.
Wir schliefen im Schlafsack am Boden, wo auch immer gerade unsere Tagesreise ihr Ende gefunden hatte. Der palästinensische Widerstand hatte sich damals noch nicht formiert. So blieb unsere jugendliche Unbekümmertheit, die uns oft weit in die eben eroberten, rein arabischen Gebiete führte, ohne Folgen für uns. Nur einmal fühlten wir uns gefährdet, als mitten in der Wüste Negev der Motor von Christophs VW-Käfer beinahe seinen Geist aufgab. Die Ölwanne war, von uns unbemerkt, beschädigt worden und das Öl fast zur Gänze ausgeronnen. Das war uns aufgefallen, weil die im Auto mitten im israelischen Hochsommer herrschende normale Hitze plötzlich unerträglich geworden war. Durch unser Stehenbleiben um nachzuschauen, war in letztem Moment ein Kolbenreiber - einer der Angstträume von Wüstenfahrern - vermieden worden. Gott sei Dank hatten wir nicht nur einen Benzin-kanister, sondern auch eine Literflasche Motoröl mitgenommen, gab es doch, so knapp nach dem Krieg, nur selten Tankstellen, vor allem nicht mitten in der Wüste. Die folgenden Stunden schienen endlos zu sein, da wir nach einigen Kilometern Fahrt immer wieder stehen bleiben mussten, um dem Motor Gelegenheit zum Abkühlen zu geben. Wir hatten Glück. Diese Flasche Öl reichte aus, um einen Kibbutz zu erreichen, wo wir uns mit großen Mengen von Motoröl versorgen konnten. Die brauchten wir auch, denn der Öldurst des VW-Käfers war beachtlich geworden.
Im Grunde erlernte ich meinen mir eher zufällig zugewachsenen Beruf erst in der praktischen Arbeit im Büro. Das war herausfordernd und spannend, hatte ich doch keinerlei Vorkenntnisse. Da hatten es jene Studenten, welche davor eine Höhere Technischen Lehranstalt besucht hatten, wesentlich leichter. Ich besuchte vagabundierend - oft den Studienplan ignorierend - die unterschiedlichsten Lehrveranstaltungen, um irgendwo auf etwas zu stoßen, was jener Begeisterung nahe kam, die ich für die Malerei und später für das Gestalten der Bühnenräume empfunden hatte. Um es einfach zu sagen: an der TU Wien herrschte in den Sechzigerjahren bornierte, langweilige Durchschnittlichkeit. Es bestimmten vorwiegend jene Professoren, welche in und durch die Nazizeit sozialisiert und geprägt waren. Dass es davon Ausnahmen gab war nicht anzunehmen, war aber überraschenderweise doch der Fall.
Es gab Erich Boltenstern mit seinem ruhigen Vortrag, der seinen Hörern ein grundlegendes Verständnis für den handwerklichen Aspekt des Entwerfens vermittelte. Seine Vorlesung über Wohnbau breitete den ganzen Reichtum der Gestaltungsmöglichkeiten, der Vielzahl von Typologien, ihrer Vor- und Nachteile aus. Ganz anders, und letztlich entscheidend mein Berufsbild prägend, waren die Vorträge Karl Schwanzers in seiner Gebäudelehre-Vorlesung. Er war zwar selten da um selbst vorzutragen, meistens hielten seine Assistenten die Vorlesung, aber diese wenigen Male genügten, um ein Bild davon zu erzeugen, was eigentlich unseren Beruf ausmacht. Seine Präsenz war groß. Unvergesslich bleibt mir seine Erzählung - im kleinen Hörsaal saßen nur ungefähr 20 Studenten, da offensichtlich niemand mit der Anwesenheit des Professors gerechnet hatte - wie er es letztlich geschafft hatte, den Auftrag für das Münchner BMW- Haus zu erhalten. Diese allseits bekannte Geschichte, mit dem von Schwanzer finanzierten, zwei Millionen Schilling teuren Aufbau des neuartigen, kleeblattförmigen Grundrisses als perfektes Bühnenbild im Filmstudio, den schönen Models an den Schreibmaschinen, dem hinter die Fenster projizierten Münchner Panorama, gehört längst zum Architektur - Anekdotenschatz. Sie fängt unübertrefflich das waghalsige, unternehmerische unseres Berufes ein. Den Mut zum Risiko und zur Überraschung, auch zum Theatralischen.
Einer seiner Assistenten - Klaus Becker - erzählte meiner späteren zweiten Frau eine Anekdote, welche eine weitere Facette seines Wesens beleuchtet. Der formale Abschluss mit einer Benotung der fertig gestellten Entwurfsprogramme - die Schwanzerin der Regel vorher nicht gesehen hatte, weil nicht er, sondern seine Assistenten die Arbeiten betreuten - erfolgte in einem der großen Zeichensäle des Institutes. Alle Entwürfe waren auf Tischen und Wänden zur Präsentation hergerichtet, die Studenten stehen vor ihren Plänen. Schwanzer geht relativ zügig an den ausgestellten Arbeiten vorbei, hört sich den Notenvorschlag des betreuenden Assistenten an, nickt oder zögert, fragt manchmal nach, bleibt hin und wieder stehen, um einen der Studenten zu befragen. Bei einem offensichtlich schlechten Entwurfsprojekt bleibt er stehen und stellt dem persischen Studenten einige Fragen, die dieser nicht beantworten kann, sondern umständlich herumredend, auszuweichen sucht. Da verliert der heute gut gelaunte Professor die Geduld und sagt zu ihm: "Ich geb's auf, stellen Sie sich selbst eine Frage und beantworten sie auch gleich selbst. Der Perser reagiert "wie aus der Pistole geschossen": "Sind sie mit einem genügend zufrieden? Ja Danke!" Schwanzer lacht und gibt ihm ein Genügend.
Leider hatte ich nicht das Glück, vom wohl bedeutendsten unter Schwanzers Assistenten, nämlich Günther Feuerstein, bei der Erarbeitung des Semester-Entwurfsprogramms an dieser Lehrkanzel betreut zu werden. Ich sollte ihn aber dann später kennenlernen, als ich in seinem Büro zu arbeiten begann. Den Namen des mich damals betreuenden Assistenten habe ich vergessen. Nicht vergessen habe ich allerdings, dass er mir, bei einer der regelmäßig stattfindenden Korrekturen meines Entwurfsprogrammes, ein Buch über Richard Neutrain die Hand drückte und mir zur sorgfältigen Lektüre empfahl. Er musste bemerkt haben, dass ich etwas orientierungslos, ohne innere Vorstellungen von Architektur, herumprobiert hatte und wollte meinen ziellosen, tastenden Versuchen offenbar eine Richtung geben. Er stieß damit eine Entwicklung an, welche zu einer intensiven Auseinandersetzung mit der Klassischen Moderne führt. Es war, als ob ich aus einer behindernden Latenz plötzlich wachgerüttelt worden wäre.
Die Semester davor waren damit vergangen, mehr oder weniger trockenen, theoretischen Stoff zwar mit Interesse, aber ohne Begeisterung in mich aufzunehmen. Das änderte sich jetzt schlagartig. Ich sah alles in einem neuen Licht. Ich las alles, was mir an Architektur-Literatur in die Hände kam.
Innerhalb von vier Semestern hatte ich, getrieben von meiner neuen Begeisterung, die meisten der zu absolvierende Prüfungen hinter mich gebracht. So war es ein Leichtes, die für die fortlaufende Gewährung meines Stipendiums notwendigen Leistungsanforderungen zu erfüllen. Einer von Schwanzers Assistenten erzählte mir, dass in Feuersteins Büro eine Stelle frei sei. Ich bewarb mich und bekam den Job. So war es mir zwar nicht gelungen, meine Entwurfsprogramme unter Feuersteins Betreuung zu machen, dafür konnte ich aber jetzt in seinem Architekturbüro arbeiten.
Es war eine aufregende Zeit. In Paris und Berlin brodelte es an den Universitäten. Die Wortführer der Studentenrevolution waren unterwegs, die Väter-Generation und das mit ihnen verbundene System wegzufegen. Der Umsturz aller Werte und ein Neubeginnen waren das Programm; Widerstand, Provokation und Protest die Mittel zur erhofften Durchsetzung. Gewalttätige Auseinandersetzungen zwischen den "Ordnungsmächten“ und den Demonstrierenden waren in diesen Städten an der Tagesordnung. Man protestierte gegen den amerikanischen Imperialismus, den Vietnamkrieg, propagierte die Frauenbefreiung, den Tod der Kleinfamilie und freie Sexualität. "Unter den Talaren der Mief von 1000 Jahren“ skandierend, zogen die Studenten durch die Straßen. Man radikalisierte sich am Widerstand des Systems, viele sympathisierten mit den entstehenden Terrorzellen der RAF und Roten Brigaden.
In Wien war es ruhig. Sehr ruhig. Nur weniges sorgte für vereinzelte Erregung. Die durch bewusste Regelverstöße der Wiener Aktionisten Brus, Nitsch, Schwarzkogler und Mühl verstörten Bildungsbürger erkannten nicht die politische Harmlosigkeit dieses Aufruhrs gegen die etablierte Ästhetik. Man nahm die Künstler beim Wort und deutete diesen Aufstand politisch als Angriff auf das System, ohne zu erkennen, dass der scheinbare Avantgardismus der Aktionisten bloß "im Hässlichen das Reservat des Schönen" suchte. Dieser Aufstand gab sich zwar inhaltlich, war aber im Kern nur einer, der nach neuen Formen suchte.
Ähnliches geschah in der Wiener Architekturszene. Ausgangspunkt war die TU Wien. Die Professorenschaft war, mit einer rühmlichen Ausnahme, durchwegs konservativ eingestellt. Namen wie Kupsky, Keidel, Wurzer und Koepf, alle sozialisiert in der Zeit des "Heimatstils"der 1930er-Jahre und des Nationalsozialismus, stehen für den erstickenden Stillstand in der Ausbildung der jungen Architekten, aber auch für das vorherrschende gesellschaftliche Klima in Österreich. Internationale Entwicklungen wurden ignoriert, die Protagonisten der Moderne verschwiegen. In den Bibliotheken der Institute war nichts zu finden über das, was jenseits der Grenzen geschah.
Ganz anders aber am Institut für Gebäudelehre, wo Karl Schwanzer für frischen Wind sorgte. Hier konnte man in der rasch wachsenden Bibliothek erfahren, was draußen in der Welt entworfen und gebaut wurde - und das war aufregend. Unter der Ägide seines Assistenten Günther Feuerstein formierten sich Studentengruppen, die später auch international wirksam werden konnten. Gruppen wie Zünd-Up - später Salz der Erde - oder die Haus-Rucker und Coop Himmelb(l)au wären wahrscheinlich ohne Feuersteins Förderung nicht entstanden. In seinem wöchentlich außerhalb der Universität stattfindenden "Klubseminar der Architekturstudenten" trafen alle zusammen, die an Neuem interessiert waren. Hier waren Meinungsaustausch, Anregung Streitgespräch, Experiment und Information zu finden; alles das, was an der TU nicht vorkam. Im Hörsaal 14a hielt er die einzige Vorlesung an der Universität, in welcher von dem gesprochen wurde, was in der Welt geschah: "Tendenzen der Gegenwartsarchitektur". Für die nach Neuem dürstenden Jungen eine Offenbarung.
Alle diese sich als Avantgardisten verstehenden Gruppierungen hatten, bei aller Unterschiedlichkeit der Persönlichkeiten, ein Gemeinsames, das mich zunehmend irritierte und damit auf Distanz hielt. Es war die Fokussierung auf das Ästhetische als primäres Interesse. Auch bei den diversen Aktionen stand im Grunde nicht Inhaltliches im Zentrum ihres Interesses. Habitus und Ductus ihres Auftretens verstießen zwar radikal gegen möglichst viele bürgerliche Konventionen und provozierten nicht nur empörte Aufmerksamkeit, sondern auch regelmäßig das Auftreten der Staatsmacht. Letztlich passten aber alle mit ihren Konzepten zu den Fortschrittsfantasien der westlichen industriellen Nachkriegsgesellschaft, die noch nicht wirklich im vor sich dahin-schlummernden Nachkriegs-Österreich angekommen war. Avantgarde waren sie insofern, als sie das zerstörerische Element des globalisierten Kapitalismus in ihrer Kunst vorwegnahmen. In gewisser Weise erinnerte das alles an die italienischen Futuristen. Die Haus-Rucker bildeten dabei insofern eine Ausnahme, als sie sich geradezu stromlinienförmig mit vielen ihrer Arbeiten in die Werthaltungen der herannahende Konsumgesellschaft einfügten. Da bedurfte es gar nicht der von Marcuse so genau beschriebenen Vereinnahmung und Kommerzialisierung systemkritischer Strömungen, wie etwa der amerikanischen Hippie-Bewegungdurch die kapitalistische Marktwirtschaft; man denke dabei etwa an die millionenfach verkauften, künstlich zerfetzten, auf "alt" getrimmten Bluejeans - Die Haus-Ruckerwaren von Beginn an Teil des Systems.
Auch Ottokar Uhl war manchmal zu Gast im Architektur-Seminar. Er gehörte zu jenen wenigen Architekten, für die inhaltliche und gesellschaftspolitische Fragestellungen nicht nur Vorwand zur Entwicklung einer neuen Ästhetik waren. Seine von großem Ethos getragenen Versuche, Partizipation im Planungsprozess von Wohnbauten zu ermöglichen, beeindruckten mich sehr. Jahrzehnte später arbeitete ich mit ihm bei der Entwicklung eines gemeinsamen Projektes zusammen. Dabei befragte ich ihn gelegentlich zu seinen Erfahrungen mit den Partizipationsmodellen. Er winkte ab und drückte seine Enttäuschung aus: Der Stundenaufwand seines Büros sei enorm gewesen, im Verhältnis zu den mageren Resultaten. Letztlich musste er resigniert zur Kenntnis nehmen, dass nur in seltenen Fällen, aus seiner Sicht, für die Benutzer wirklich passgenaue Lösungen erarbeitet werden konnten. Meist waren es festgefahrene, vorgefertigte, konventionelle Vorstellungen, welche nach großem Gesprächs- und Entwurfsaufwand und langen Umwegen am Ende herauskamen. Was erreicht wurde, war bloß eine Ästhetik des Zufälligen, Regellosen. Diese aber war nicht das Ziel seiner Bemühungen gewesen.
Zu einer seiner Vorlesungen hatte Feuerstein Otto Mühl eingeladen. Dieser zeigte vorerst viele Dias von seinen berüchtigten Materialaktionen. Darauf waren nackte Männer- und Frauenleiber, ineinander verschlungen, drapiert mit Obst und Gemüse und übergossen mit Speiseöl, zu bunten Kompositionen arrangiert, zu sehen. Das sah alles durchaus gefällig aus und erinnerte stark an die manieristischen Gemälde von Giuseppe Arcimboldo, transponiert in Ganzkörper-Akte. Ich war überrascht, da ich Anderes erwartet hatte. Bekannt waren mir vorher nur die verstörenden Bilder der Körperaktionen von Günter Brus und Rudolf Schwarzkoglergewesen. Mühl reagierte sichtlich verärgert auf meine in der anschließenden Diskussion wahrscheinlich zu ironisch vorgetragenen "arcimboldo'schen" Assoziationen.
Wochen später erfuhren wir, dass der Lehrauftrag für die "Tendenzen" im nächsten Studienjahr nicht verlängert werden sollte. Man hatte Feuersteinsmit dem Dekanat nicht abgestimmte Praxis, "Universitätsferne" zu Vorträgen an die TU einzuladen als Vorwand genommen, um den Unbequemen kalt zu stellen, der alles in Frage stellte, was dem universitären "Lehrkörper" vertraut und heilig war.
In den Zeichensälen an Schwanzers Lehrkanzel rumorte es. Die Stimmung unter den dort an ihren Entwurfsprogrammen arbeitenden, engagierten Studenten schwankte zwischen Resignation und Zorn, war mit der Abschaffung dieser Vorlesung doch die Hoffnung auf weitergehende Veränderungen eliminiert worden. Ein Studienkollege aus Tirol - F. Moser - wollte das, so wie ich, nicht hinnehmen. Wir verabredeten uns etwas dagegen zu unternehmen und organisierten in einem der Zeichensäle eine erste Protestversammlung, zu der wir den damaligen Dekan der Fakultät - Professor Keidel - einluden. Der kam auch und sah sich ungefähr 100 Studenten gegenüber; keine gewohnt passiv hinnehmende Zuhörerschaft, sondern Aufklärung fordernde Studierende, die Ansprüche stellten. Seine ausweichenden Antworten verstärkten den Unmut und brachten einige der Anwesenden dazu, offen Veränderungen der rückschrittlich-konservativen Verhältnisse an der Fakultät einzufordern. Schließlich löste sich die Versammlung in Unruhe auf.
Durch die Organisation dieser Versammlung waren Moserund ich einer größeren Gruppe von Interessierten als treibende Kräfte bekannt geworden. Wir trafen uns mehrmals, um die weitere Vorgangsweise zu besprechen und beschlossen schließlich, eine TU-weite Unterschriftenaktion zu starten für die Verlängerung des Feuerstein'schen Lehrauftrages. Das war ein beispielloser Vorgang für die, heute kaum mehr nachvollziehbaren, erstickenden Verhältnisse an der TU. Zum ersten Mal hatten Studenten hier gewagt, offen Stellung gegen den herrschenden Studienbetrieb zu beziehen. Wir sammelten innerhalb einer Woche mehr als 1000 Unterschriften für den Verbleib Feuersteins. Das übertraf unsere Erwartungen bei weitem. Offenbar war die Zeit überreif, die an der Technischen Universität herrschende Erstarrung aufzubrechen; es hatte nur eines Anlasses bedurft, um das Unbehagen zu kanalisieren.
Diese Aktion hatte den Versuch der etablierten Professorenschaft durchkreuzt, die Demontage des beliebten Lehrers unbemerkt, durch einen bloßen Verwaltungsakt zu vollziehen. Jetzt war der Vorfall durch entsprechend deutlich klarstellende Flugblätter universitätsweit - und darüber hinaus - bekannt geworden. Der unerwartete erste Erfolg hatte uns zuversichtlich gestimmt. Wir entschieden uns dafür, zu einer Demonstration am Minoritenplatzaufzurufen, wo wir dem für die Universitäten zuständigen Unterrichtsminister unser Anliegen vortragen und eine Petition übergeben wollten. So geschah es auch.
Natürlich war es naiv von uns anzunehmen, der damalige "erzkonservative" Minister Piffl-Percevic würde uns persönlich empfangen. Eben jener Minister, der wutentbrannt den Saal verlassen hatte, als Thomas Bernhard 1968 in seiner "Dankesrede" zur Verleihung des "Förderpreises im Rahmen des Österreichischen Staatspreises für Literatur" Österreich "beleidigt" und damit einen veritablen Skandal ausgelöst hatte.
Diesen autoritär gestimmten Mann, der durchaus repräsentativ für das damalige politische Klima in Österreich war, mussten die ironischen Attacken des „Übertreibungs-Künstlers“ zutiefst verstört haben. Solches war man nicht gewohnt. Man war auch nicht daran gewöhnt, dass Studenten es wagten, offen Widerstand zu leisten. Es hatte zwar an der Wiener Universität vereinzelten Aufruhr gegeben. Man denke etwa an jenen von den „Wiener Aktionisten“provozierten Skandal rund um die „Uni-Ferkeleiern“,oder so manche Aktion extremistischer, studentischer Splittergruppen. Mit dem, was sich aber in Paris und Berlin an den Universitäten an radikalen Protesten ereignete, waren die Wiener Verhältnisse nicht zu vergleichen. Dem Wienerisch-Österreichischen liegt nicht die offene Konfrontation, die zugespitzte Widerrede. Hier scheint alles langsamer und abgemildert abzulaufen, Revolutionen finden hierzulande nicht statt - oberflächlich betrachtet.
Es gelang uns jedenfalls, einem Beamten des Ministeriums unser Anliegen, den Lehrauftrag Feuersteins für das folgende Studienjahr zu verlängern, vorzutragen und die Petition abzugeben. Eine Woche später wurden Moser und ich offiziell vom Rektorat vorgeladen, um „Auskunft“ über die "skandalösen" Vorfälle an der TU zu geben. Was war und vorzuwerfen? Es hatte die erwähnte improvisierte Versammlung im Zeichensaal mit Professor Keidel, einige Informationsveranstaltungen für interessierte Studenten, die Unterschriftenaktion und eine ordnungsgemäß angemeldete Demonstration vor dem Unterrichtsministerium gegeben. Das war alles legal - wenn auch hierzulande nicht üblich.
Das Nachkriegsösterreich der Wiederaufbauphase hatte sich der Verdrängung dessen verschrieben, was im Ständestaat und der Nazizeit passiert war. Die geistige und kulturelle Elite des Landes war ermordet oder vertrieben worden, zurückgeblieben waren anpassungsfähige Mitläufer, Karrieristen - im besten Fall. Leider auch andere, wie etwa Ewig-Gestrige vom Schlage eines Taras Borodajkewycz und jene jüngeren, die im Dritten Reich sozialisiert worden waren. Ausnahmen gab es an den Wiener Universitäten kaum. Man schloss sich nach außen ab, gab sich unpolitisch - was nur ein Euphemismus für eine politisch höchst wirksame, veränderungsfeindliche Haltung war. Nur wenige der überlebenden Vertriebenen kehrten zurück, aber auch diese wollte man hier nicht; man wollte „in Ruhe gelassen werden“.
Was war also passiert? Da gab es einen jungen Universitätsassistenten, der seinen kleinen Lehrauftrag dazu nutzte, von dem zu berichten, was draußen in der Welt des Bauens in den letzten 30 Jahren passiert war. Er förderte einige rebellische junge Talente, die querköpfig mit neuen Formen experimentierten und bot ihnen in- und außerhalb der Universität einen Rahmen, in dem sie sich äußern und mit-, manchmal auch gegeneinander kommunizieren konnten. In Paris und Berlin war die studentische Rebellion gegen die „Väter“ gesellschaftspolitisch ausgerichtet, in Wien jedoch im Grunde nur ästhetisch. Wo im Ausland freie Sexualität und die Frauenbefreiung, Mitbestimmung und die Zerstörung der Kleinfamilie als „Ort der Repression“ gefordert wurden, suchte man hierzulande nach neuen künstlerischen Ausdrucksformen. Man "arrangierte das sinnliche, um zu scheinen, als wäre man der Idee mächtig“ (zitiert nach Adorno).
Aber auch diese gesellschaftspolitisch letztlich harmlosen Versuche genügten, die universitären Autoritäten zu beunruhigen. Man wollte den Anfängen wehren und hatte die „Rädelsführer“ zu sich zitiert. Da standen Moserund ich vor dem versammelten Professorenkollegium und sollten Rechenschaft ablegen. Rektor Wurzer, Dekan Keidel, einige andere Professoren der Architektur-Fakultät, aber auch einige von anderen Fakultäten waren anwesend. Wir gaben Auskunft zu unseren Motiven und wurden danach in eisiger Atmosphäre entlassen. Eine Bemerkung des Dekans, "man werde überlegen, welche Konsequenzen unsere Handlungen haben könnten", beunruhigten uns sehr.
Bald danach hatten andere Nachrichten die Schlagzeilen in der Wiener Boulevardpresse von der „Studenten-Rebellion an der Wiener Technischen Hochschule“ verdrängt. Die Sommerferien taten ein Übriges, es herrschte wieder Ruhe.
Im neuen Vorlesungsverzeichnis für das kommende Studienjahr entdeckten wir zu unserer Überraschung, dass die Lehrveranstaltung wieder mit Feuerstein ins Programm aufgenommen worden war. Wir hatten also erfolgreich Widerstand gegen die Absetzung geleistet. Darüber hinaus hatte es offensichtlich kein Disziplinarverfahren gegen die "Rädelsführer" gegeben. Professor Keidels abschließende Bemerkung bezüglich der "Konsequenzen unserer Handlungen" war wohl, wahrscheinlich nicht ohne Absicht, für uns missverständlich formuliert worden. Wir waren tatsächlich eingeschüchtert, wollten wir doch keinesfalls von der Universität relegiert werden. Dass damit gemeint war, Feuersteins Lehrauftrag weiter zu verlängern, kam uns damals nicht in den Sinn.
Wir sahen voller Erwartung dem Tag der ersten Vorlesung aus der Reihe "Tendenzen der Gegenwartsarchitektur" entgegen, erwarteten wir doch, dass unsere Studienkollegen zuhauf den nicht sehr großen Hörsaal 14a stürmen würden. Es kam aber anders. Im bis zu 150 Personen fassenden Saal saßen schließlich knapp 20 Hörer vor einem sichtlich enttäuschten Vortragenden. Es sollten dann auch an den folgenden Vorlesungstagen nicht viel mehr werden.
Von unserem "großartigen" Erfolg war nicht mehr geblieben, als ein halbleerer Hörsaal mit einem frustrierten Feuersteinund mir - wie ich viel später erfuhr - ein Akt bei der Staatspolizei; aber auch eine wichtige politische Erfahrung.
In den letzten zwei Studienjahren konzentrierte ich mich darauf, möglichst rasch das Studium zu beenden, weshalb ich nur soweit in Architekturbüros arbeitete als notwendig war, um finanziell "über die Runden zu kommen". Die meiste Zeit verbrachte ich im "Schwanzer'schen"Zeichensaal, wo ich an den noch ausstehenden Entwurfsprogrammen arbeitete. Dort lernte ich auch einen Studenten kennen, der mir später, nach meinem Studienabschluss, eine Anstellung im Büro eines Landschaftsplaners vermittelte, der im Begriff war eine eigene Architekturabteilung aufzubauen.
Damals schloss man das Studium mit einer Diplomarbeit ab, die in einer einwöchigen Klausur an der TU zu entwickeln war. Das war zwar für manche etwas stressbetont, hatte aber den Vorteil, dass innerhalb dieser kurzen, arbeitsintensiven Zeitspanne alles erledigt war. Ein durchaus praxisnaher Test, war man doch in der eigentlichen Berufsausübung später immer wieder damit konfrontiert, innerhalb einer knapp bemessen Zeit Entwürfe zu entwickeln und termingerecht zu liefern. Die Hochschülerschaft sollte dann später, im Rahmen einer Studienreform die Abschaffung dieser komprimierten Diplomprüfung erfolgreich fordern. Ersetzt wurde sie dann durch eine ein-semestrige Diplomarbeit. Diese gab sich in der Regel pseudowissenschaftlich und hatte mit den Anforderungen der Praxis unseres Berufs herzlich wenig zu tun. Später beobachtete ich bei den in meinem Büro arbeitenden Studenten, dass sie in der Regel wesentlich länger, als bloß ein Semester mit ihren Diplomarbeiten beschäftigt waren. Die Reform war im Endeffekt für die meisten der Studierenden von fraglichem Vorteil. Profitiert hatten davon nur jene, die sich nicht zutrauten, innerhalb eines definierten Zeitraumes ein schlüssiges Konzept zu entwickeln.
Nachdem ich 1970 mit der Diplomprüfung mein Studium abgeschlossen hatte, bot mir einer von Schwanzers Mitarbeitern eine Assistentenstelle am Institut für Gebäudelehre und Entwerfen I an. Was ich vom Hochschulbetrieb gesehen und im Zusammenhang mit der „Affäre Feuerstein“ auch hautnah erfahren hatte war allerdings nicht dazu angetan, meine Zukunft an der Technischen Universität zu sehen. So lehnte ich das sicher schmeichelhafte Angebot leichten Herzens ab und begann im Büro Herbert Ursprunges zu arbeiten.
Ein Viertel-Jahrhundert später sollte ich dann für ein Semester an die "Technik" zurückkehren, die jetzt Technische Universität hieß, um als Gastprofessor ein Entwurfsseminar zu leiten. Ich erlebte in dieser Zeit Studenten, die daran gewöhnt waren, vorgegebene Anforderungen widerspruchslos zu erfüllen, ohne auch nur daran zu denken, diese eventuell auch in Frage stellen zu können. Man hatte zwar die alte Technische Hochschule euphemistisch zur Universitätumgetauft. Vom Gedanken der "universitas" hatte man sich allerdings weit entfernt. Hier wurden junge Menschen zu gut funktionierenden Arbeitskräften zugerichtet, die wissen was erwartet wird und bereit sind zur Einfügung in den Produktionsprozess. Im Rückblick auf die 1960er-Jahre erkannte ich, welch hohes Ausmaß an individuellen Gestaltungsmöglichkeiten des Studienganges wir, mitten im intellektuellen Vakuum der Nachkriegszeit, im Vergleich zur heutigen Universität damals gehabt hatten.
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