Abschied vom Glauben an die Gestaltbarkeit der Welt (2015)
Müssen wir Abschied nehmen vom Glauben an die Gestaltbarkeit der Welt? Ich sehe Resignation, Hilf - und Ratlosigkeit sich wie ein schleichend lähmendes Gift in unserer Gesellschaft ausbreiten. Rat - und Hilflosigkeit allerorten. Die Geschwindigkeit der Veränderungen raubt den Atem, Zeit zu Reflexion und Analyse wird nicht mehr gegeben. Die Informationsflut überschwemmt die Aufnahmefähigkeit. Was heute gilt, ist morgen überholt, das Abbild der Welt zersplittert in tausend Scherben, unsere Wahrnehmung wird fragmentiert, Homogenität ist nur mehr über Verweigerung herstellbar. Unser psychischer Wahrnehmungsapparat sucht nach Entlastung. Einerseits.
Und Wut ist zu sehen. Auf die da oben, die Bürokraten in Brüssel, auf unfähige Politiker. Das Bildungssystem: überfordert. Das Gesundheitssystem krank, die Steuern zu hoch, überall nur Vorschriften und Regeln die einschränken, überall Verkehrsstau, die Mieten nicht leistbar, steigende Arbeitslosigkeit, die Ausländer nehmen uns die Jobs weg. Und überhaupt. Der Wutbürger.
Und Angst. Angst vor der neuen Völkerwanderung, vor dem Untergang der Abendländischen Kultur, vor der Globalisierung. Mit Thilo Sarrazin gesprochen: Europa schafft sich ab. Angst vor der Zukunft, die nur Verschlechterung bringen kann. Die Apokalyptiker haben Hochsaison.
Aber nicht nur die Apokalyptiker, auch die Experten sind angesichts der neuen Unübersichtlichkeit gefragt uns Welterklärungen zu liefern. Um einen Begriff aus der Finanzwelt zu verwenden: Ein wahrer Bullenmarkt für Expertisen ist entstanden, die Erklärer reisen von Talkshow zu Talkshow. Die Qualitätspresse bietet eine weitere Bühne, das Buch zur aktuellen Krise ist schnell geliefert. Nur leider: Fragt man drei Experten, so bekommt man fünf Antworten. Der verwirrte Zeitgenosse bleibt ratlos zurück; die Karawane der Experten zieht weiter. Eine Hochzeit für narzisstische, welterklärende Selbstdarsteller.
Aber auch die schrecklichen Vereinfacher können reiche Ernte einfahren. Überall auf unserem alten Kontinent laufen ihnen die Frustrierten zu. Und nicht nur diese. Es braucht gar nicht die musikalischen Talente des Rattenfängers von Hameln um erfolgreich zu sein.
Angesichts der scheinbaren Unsteuerbarkeit und Unübersichtlichkeit wird gerne unser unterschätzter Altkanzler Fred Sinowatz falsch zitiert:"Es ist alles kompliziert". Dabei meinte er das gar nicht resignativ. Ganz im Gegenteil sagte er in seiner falsch zitierten Regierungserklärung: "Ich weiß, das klingt alles sehr kompliziert" und meinte damit, man dürfe sich dadurch nicht abschrecken lassen. Aber davon später.
Keine Generation davor hat über die Welt mehr gewusst als unsere. Aber zugleich fühlen viele - und das sind nicht unbedingt die dümmsten - dass in der Flut an Informationen und möglichen Wissens kein konsistentes Weltbild mehr entwerfbar ist und die zahllosen Wirklichkeiten den Erkenntnisapparat überfordern. Die Globalisierung der Informationen und die Möglichkeit des raschen und einfachen Zugriffes in Echtzeit, die unüberschaubare Menge an Veröffentlichungen zu allen möglichen und unmöglichen Themen vertreiben den rezipierenden, teilnehmend um Erkenntnis ringenden Zeitgenossen aus der, im Rückblick geradezu paradiesisch anmutenden, einfach überschaubaren Geisteswelt vergangener Jahrhunderte, welche vom Siegeszug der Aufklärung geprägt waren. Wen darf es wundern, wenn sich geistige Arbeiter auf immer enger gefasste Spezialgebiete zurückziehen und jene, die versuchen, sich der Informationsflut zu stellen, den Überblick zu bewahren trachten, nur allzu leicht gefährdet sind, in mehr oder weniger geistvolle Beliebigkeit abzugleiten: Das Feuilletonistische ist ein Kind der rasant expandierenden Wissenswelt.
Aber wie damit umgehen ohne verengtem Tunnelblick der alles wegblendet und abschottet, was ein konsistentes Weltbild - welcher Richtung auch immer - in Frage stellen könnte. Der Paranoiker ist, ebenso wie der Feuilletonist, ein Phänotyp unserer Zeit.
Wie andererseits vermeiden, zwischen der Vielzahl angebotener Erklärungsmodelle herumschlingernd, sich resignierend darauf zurück zu ziehen, dass eben alles sehr kompliziert und letztlich unverständlich sei und man im Übrigen nur ohnmächtig zusehen könne, wie "Alles den Bach hinunter gehe". Oder, um mit dem Schuster Knieriem den Refrain aus dem Kometenlied zu singen: "Die Welt steht auf kein Fall mehr lang".
Grundiert nicht dieses Ohnmachtsgefühl als unausgesprochenes Leitmotiv bereits unser Denken? Finanzkrise, Flüchtlingskrise, Krise des Wohlfahrtsstaates, Eurokrise, Auseinanderklaffen der Schere zwischen Arm und Reich, das Scheitern der Entwicklungshilfe und so weiter und so fort. Sind wir dabei unterzugehen?
Vieles wurde schon geschrieben über die allgemeine Politikverdrossenheit der Jugend, ihren biedermeierlich anmutenden Rückzug ins Private, ihre Hinwendung zu den großen drei "F": Familie, Freundschaft, Freizeitgestaltung. Was ist da passiert?
Manche meiner Generation, soweit sie sich den 68igern zurechneten, sind protestierend auf die Straße gegangen, gegen die Väter rebellierend, sie, mit der Hybris der Jugend, verantwortlich machend für die Katastrophe des Nationalsozialismus, und deren patriarchalisch - autoritäres Weltbild attackierend. Die Kleinfamilie wurde geortet als Quelle allen Übels, freie Sexualität und antiautoritäre Erziehung sollten das Heil bringen. Dass man dabei Neill´s "Summerhill" - Konzept gründlich missverstanden hatte, spielte keine Rolle. Reflexion kam später, Handeln war gefragt. Die aus dem amerikanischen Exil zurückgekehrte "Frankfurter Schule" lieferte das Vokabular zum Angriff der Studentenbewegung auf die alte Welt, die so verblüffend rasch aus den Ruinen des zweiten Weltkrieges auferstanden war.
Auf den Studienabschluss des "68igers" folgte dann - wie man später es euphemistisch zu umschreiben pflegte - der lange "Marsch durch die Institutionen" an die "Schalthebeln der Macht", beziehungsweise das was dafür gehalten wurde. Dort angelangt erwies sich allerdings nur zu oft, dass die Revolte wohl nur die sich in jeder Generation, in unterschiedlicher Ausformung wiederholende, in diesem Fall eben ideologisch maskierte, gegen die "Väter" aber eben nicht gegen die "Väterwelt" gewesen war. Ein plakatives Beispiel zur Illustration liefert der, viele politische Ämter bekleidende, spätere Deutsche Außenminister Joschka Fischer. In seiner Studentenzeit nahm er an PLO - Konferenzen in Algier teil. Jahre später zeigt ihn ein Foto, vermummt und mit Sturzhelm, bei einer Straßenschlacht der linksradikalen, militanten Gruppe "Revolutionärer Kampf", gemeinsam mit dem später verurteilten Terroristen Hans-Joachim Klein, auf Polizisten einschlagend. Als das alles später öffentlich bekannt wurde, hatte er einige Schwierigkeiten damit, sich von seinen "Jugendsünden" zu distanzieren. Heute, nach Beendigung seiner erfolgreichen politischen Laufbahn, ist er eine gerne gehörter - und, nebenbei erwähnt, auch ein gut bezahlter - Vortragender vor Investmentbankern von Goldman & Sachs, Berater von Siemens und BMW und gefragter Erklärer des Weltgeschehens.
Waren also der der Aufstand der "68iger" und ihre Gesellschaftsentwürfe vergeblich? Waren die Ideen von der Befreiung des Menschen aus den Fesseln autoritärer Erziehung und unterdrückter Sexualität, die Aufhebung der Entfremdung, und der damit verbundenen Hoffnung auf die Entfaltung seiner Kreativität eine bloße Chimäre, waren die "68iger" gescheitert? Hatte die Epoche dieser "Zweiten Aufklärung" ein schnelles Ende gefunden, ohne Spuren zu hinterlassen?
Aus der Distanz betrachtet wird erkennbar, dass diese Generation mit ihren hochfliegenden Plänen scheitern musste an ihren hohen Ansprüchen, war sie doch viel zu nahe verortet an den totalitären Ideologien des zwanzigsten Jahrhunderts. Die sie erzogen hatten, waren sowohl als Täter als auch als Opfer nur selten fähig, sich aus den totalitären Denkfiguren zu lösen. Soferne sie überhaupt zu ihren Kindern sprachen oder sogar zu kritischer Reflexion fanden, reichte es bestenfalls zu einem materialistisch konnotierten Skeptizismus, wofür etwa der hochgeschätzte deutsche Altkanzler Helmut Schmid ein gutes Beispiel liefert. Wie in allen Utopien wurde ein Menschenbild entworfen, sollte ein "Neuer Mensch" erschaffen werden. Antiautoritär in der Gemeinschaft erzogen, mit in freier Liebe gelebter, unbehinderter Sexualität und durch bewusstseinsverändernde Drogen erweiterter Wahrnehmung sollte dieser neue, befreite Mensch sein kreatives Potential zum Nutzen der Gesellschaft entfalten. Bei aller inhaltlicher Verschiedenheit fallen doch sehr die strukturellen Ähnlichkeiten zu den Totalitarismen des zwanzigsten Jahrhunderts auf: So ging es im Kommunismus sowjetischer Prägung darum, den Sozialistischen Menschen zu erziehen oder im Nationalsozialismus den arischen Herrenmenschen durch Erziehung und Eugenik heranzuzüchten - man denke etwa an die Organisation "Lebensborn".
Manche meiner Generation wurden von diesen neuen Überzeugungen angezogen, ohne die darin maskierten autoritären Grundzüge zu erkennen. Es waren nicht wenige, die in den 70iger-Jahren einen Wochenendausflug zum Friedrichshof im Burgenland gemacht haben, um dort an den gewaltgeschwängerten "aktionsanalytischen" Sitzungen der Mühlkommune begeistert teilzunehmen. Vierzig Jahre später, die damals teilweise gefilmten Zusammenkünfte betrachtend, bin ich fassungslos, dass damals so wenig die beklemmende Nähe zum Faschismus erkannt wurde. Dieselben, welche ihren Vätern vorgeworfen hatten, nicht rechtzeitig erkannt zu haben, wohin der Nationalsozialismus führen würde, pilgerten fasziniert ins Burgenland zu Otto Mühl, der in seiner Kommune nur liebevoll "Der Otto" genannt wurde, um ihm beim diktatorischen Manipulieren und Quälen zuzusehen.
Die postmodernen Philosophen verkündeten das Scheitern der Utopien und "Erzählungen der Moderne"; es müsse Abschied genommen werden von den großen Weltentwürfen. Wer heute handeln möchte, muss dessen gewärtig sein, sich in einem undurchschaubaren, hochkomplexen, sich permanent verändernden, gestaltlosen Flechtwerk zu bewegen, das wir Welt nennen. Was handelnd letztendlich bewirkt wird ist nicht vorhersehbar. Deutlich erkennbar ist geworden, dass Politik ihre Gestaltungsmacht weitgehend verloren hat und meist wirtschaftlichen und technologischen Veränderungen nachhinkt. Karl Popper sprach vom Politiker als "Stückwerk - Ingenieur", Politik sei eben keine "mechanische Ingenieurkunst".
Kann man in der Unübersichtlichkeit unserer Welt überhaupt noch mehr als bloß reagieren? Andererseits, kann und soll nicht Politik Zukünfte vorausdenken, nicht über Möglichkeitssinn verfügen? Der Altkanzler Helmut Schmidt, dieser wortgewaltige Pathetiker norddeutscher Nüchternheit, meinte einmal in Richtung Willy Brandts: "Wer Visionen hat, braucht einen Arzt". Ich glaube, so ganz ohne innere Leitbilder wird er jedenfalls auch nicht ausgekommen sein. Nur als von den Ereignissen vor sich hergetriebener "Stückwerk - Ingenieur", auf gut wienerisch gesagt, "weiterwursteln"? Oder, wie es wesentlich eleganter der bekannte britische Politiker Harold Macmillan in den 60iger - Jahren des vergangenen Jahrhunderts formuliert hat, als er die Frage einer Reporterin, was denn seine Politik hauptsächlich beeinflusst habe, so antwortete: "Die Ereignisse, meine Liebe, die Ereignisse".
Auch Macmillan, der Earl of Stockton, war nicht bloß ein geschickter Verwalter dessen, was passiert. Er wurde wesentlich geformt von seinen Erfahrungen im 1. Weltkrieg, an welchem er als aktiver Frontoffizier teilgenommen, und - im Unterschied zu den meisten seiner Klasse - ihn stark prägende Erfahrungen mit den sogenannten "einfachen Leuten" gemacht hatte. Er sollte dann später einen nicht unwesentlichen Anteil daran haben, die Conservative Party stärker in die politische Mitte zu bewegen und so zu einer Partei umzuformen, welche einen bedeutenden Anteil am Aufbau des damals vorbildlichen britischen Wohlfahrtsstaates der 1950iger und 60iger - Jahre hatte.
Es geht also vor allem darum, die rechte Balance zu finden zwischen Prinzipientreue und dem elastischen Reagieren auf die permanenten, meist nicht vorhersehbaren Veränderungen der Rahmenbedingungen, unter denen Politik stattfindet. "Situationselastisch" nannte das ein nicht gerade für elegante Formulierungskunst bekannter Politiker, der damit wohl das "Unwort des Jahres 2014" geprägt hat. Ziele und Maßnahmen müssen ständig modifiziert, oft auch aufgegeben werden, und vor allem sind große Ausdauer und ein hohes Maß an Frustrationstoleranz unverzichtbar. Winston Churchills definierte mit unnachahmlichem britischen Understatement den politischen Erfolg am Ende seines wechselvollen Lebens als "Fähigkeit, von einem Scheitern zum nächsten zu schreiten, ohne den Enthusiasmus zu verlieren". Besser kann man es nicht formulieren.