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Vom Wert der Werte (2019)

Jede menschliche Gemeinschaft bedarf verbindlicher Werte beziehungsweise Wertvorstellungen. Auch unreflektiert oder in stillschweigender, oft unbewusster Übereinkunft, bilden sie ein verbindendes Fundament. Aus aktuellen Anlässen wird gerne von unserer europäischen Leitkultur gesprochen und dem ihr zugrunde liegendes Fundament der Wertetrias "Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit". Die Kluft zwischen diesen Werten und unserer aller Lebensrealität ist jedoch beträchtlich. Woran mag das liegen?


Sind das bloß hehre Ziele, die zu erreichen wir uns immer strebend mühen sollen, gleichsam "Wertekarotten" vor der Nase? Hauptsache man bemüht sich, dem Motto folgend, das der Chor der Engel am Ende in Goethes Faust II verkündet: "...Wer immer strebend sich bemüht, den können wir erlösen." Nun, Goethe war ein realistischer, lebenserfahrener Pragmatiker und wird um die Diskrepanz zwischen Werten und unserer Lebenspraxis gewusst haben. So weit, so trivial und auch nicht einer besonderen Untersuchung wert.


Was aber wäre, wenn dieses Auseinanderklaffen auch andere Gründe hätte als die scheinbar systemimmanente Differenz zwischen dem Anspruch absolut gesetzter Werte und unserem mangelndem Vermögen, diesen Forderungen zu genügen? Was aber wäre, falls sich herausstellen sollte, dass Werte an und für sich selten taugliche Handlungsanleitungen sind? Uns vielleicht den Blick trüben, um uns dann ganz woanders hin zu führen, als wir im Sinn hatten? Wir am Ende resigniert feststellen müssen, dass unsere guten Absichten gescheitert sind und die Ziele verfehlt; dass unser Wertekompass uns in die Irre geführt hat? Lag das nur in unserer Unvollkommenheit begründet oder gibt es auch objektive, außerhalb unserer Sphäre liegende Gründe?

Nun, es gibt viele solcher Gründe. Sich einiger bewusst zu werden kann helfen, so manche Enttäuschung zu vermeiden, wenn erfolgreich wertorientiert gehandelt werden soll. Denn darum geht es: Das gemeinschaftsbildende Bekenntnis zu den gleichen Werten genügt keinesfalls. Der gute Weg in die Praxis ist weit und es gilt: Rechtes Reden ist leicht, handeln aber schwer.


Die unser Denken und Handeln verwirrende Widersprüchlichkeit unserer "Wertetrias"

Der Kampfruf der Französischen Revolution "Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit" wurde für alle westlich orientierten, liberalen, europäischen Demokratien zum zentralen Wertefundament. Über diese  a priori gesetzten Werte müssen wir nicht diskutieren; wir bekennen uns dazu. Es muss auch nicht besonders detailliert abgehandelt werden, dass die einzelnen Elemente dieser "Wertetrias" zueinander in offensichtlichem Widerspruch stehen und damit in gelebter Praxis unser Urteilen und Handeln verwirren können. Freiheit im Handeln des Einen muss eingeschränkt werden, behindert sie doch oft die Entfaltung der Freiheit des Anderen. Wie kann Gleichheit möglich sein, wo wir doch frei sein wollen - zum Beispiel in der Entfaltung unserer individuellen, zweifellos ungerecht verteilten Anlagen? In brüderlicher Gleichheit verbunden sein - wo bleibt die Freiheit, die unübersehbaren Unterschiede zu leben; sollen diese unterdrückt werden? Freiheit und Gleichheit sind folglich Antagonisten. Der Ausgleich kann gelingen, wenn Brüderlichkeit zwischen diesen Gegenspielern vermittelt. Es kann also nur ein relatives Maß an Freiheit oder Gleichheit angestrebt werden. Wird auch nur ein einziges Element dieser "Wertetrias" absolut gesetzt, so kippt die empfindliche Balance zwischen diesen Werten.


Absolut gesetzte - und vor allem gelebte - Freiheit führt zu Ungleichheit, Zwietracht und Unbrüderlichkeit. Absolut verstandene Gleichheit wird die Freiheit des Einzelnen zerstören und führt, wie die Menschheitsgeschichte zeigt, in die Abgründe totalitärer Systeme, in denen Brüderlichkeit zur zynischen Karikatur pervertiert. Aber auch in der absolut verstandenen Brüderlichkeit lauern Fallen, depraviert sie doch allzu leicht zur beschwichtigenden, Konflikte zudeckenden Harmoniesucht und ignoriert das Wirken des "Bösen". Es gibt auch den anderen, den bösen Bruder Mensch. Ihn zu respektieren in seiner uns gleichenden existenziellen Kreatürlichkeit und verstehen zu wollen ist geboten, wissen wir doch auch um das Böse in uns. Auch in dieser Hinsicht sind wir ihm Bruder - jedoch hoffentlich nicht brüderlich verbunden. Ihn zu verstehen ist wichtig, wollen wir doch seine Anschauungen und vielleicht auch sein Handeln mit aller Energie erfolgreich bekämpfen. Hier findet jegliche Toleranz ihre Grenze. Nur wer sich innerhalb der hier abgehandelten "Wertetrias" bewegt, hat Anspruch auf unsere Toleranz.


Nehmen wir einmal an, wir seien einander in Brüderlichkeit emotional verbunden. Das erleichtert den Verzicht auf völlige Freiheit unseres Handelns, um so dem Anderen - dem Bruder Mensch - Raum zur Entfaltung zu geben, was allerdings nur funktioniert, wenn es auch vice versa gilt. So können wir einander auf gleicher Stufe begegnen. Wir gleichen einander in unserer individuellen Verschiedenheit, die zu respektieren geboten ist, gelten wir doch alle gleich vor dem Gesetz.   Zwar ist uns die Stimme  des Einen zuweilen bedeutsamer als jene des Anderen, da wir ihn für klüger und wissender halten. Auf ihn hören wir. Die Stimme des anderen wird, scheinbar aus guten Gründen, übergangen. Trotzdem zählt bei Abstimmungen die Stimme des "Dummen" gleichviel wie jene des "Klugen". Ein untaugliches Prinzip, weil doch der "Dumme" falsch entscheiden wird? Wollen wir Platons Herrschaft der Philosophen? Vielleicht Otto Weininger als neuen Frauen- und Familienminister und Karl Marx als Wirtschaftsminister? Ganz abgesehen davon, dass sich Philosophen selten für die Mühen der Ebene politischen Wirkens interessieren, sei hier angemerkt:  So mancher "Kopfkluge" ist ein ziemlicher "Herzblöder".  Also lassen wir es lieber dabei. Nicht nur Sir Winston Churchill meinte zum demokratischen Prinzip, dass wir eben kein besseres kennen.


In jeder kleinen Gemeinschaft, in Vereinen, im Betrieb, auch im Freundeskreis, kann lebensnah erfahren werden, wie schwer es manchmal sein kann, Brüderlichkeit zu leben. Dies kann zuweilen eine kaum ertragbare Bürde sein. Dass man Streit vermeidenden Umgang miteinander pflegen sollte darf nicht dazu führen, den Konflikten ins Beliebige auszuweichen. Diese schwären dennoch unterirdisch weiter, um dann unerwartet, an garantiert falscher Stelle, aggressiv aufzutauchen. An diesem falschen Ort kann aber der Widerspruch nicht mehr verstanden werden, liegt doch dessen Ursache in der Vergangenheit verborgen. Der Laue, Passive wird nie streiten, ist ihm doch alles ein Gleiches. Wer sich jedoch engagiert, ist im doppelten Wortsinn bewegt - daher nicht im Gleichgewicht - und wird daher auf Widerspruch vielleicht einmal auch unangemessen heftig reagieren. Wenn dann zwei Bewegte aufeinander treffen, kann es leicht schnell heftig werden. Und wenn schon. Oder wie die Briten so unnachahmlich "cool" zu sagen pflegen: "So what!" Es liegt doch in der Natur des Bewegt-Seins, dass Leidenschaften walten. Das sollte daher nicht weiterer Rede wert sein. Der zivilisierte Streit darf und kann nicht vermieden werden, ist doch die Differenz und deren verträglicher Ausgleich auf der individuellen und gesellschaftlichen Ebene die Essenz der Demokratie.


"Gesinnungsethik" versus "Verantwortungsethik": Max Webers hilfreiches Begriffspaar zur Strukturierung von "Wertedebatten"

Max Weber hat anfangs des 20. Jahrhunderts ein Begriffspaar vorgeschlagen, welches ein hilfreiches Instrument sein kann, um Orientierung in die oft unstrukturiert und wirr ablaufenden Wertedebatten zu bringen. Er entwickelte, mitten in den revolutionären Umbrüchen des Jahres 1919, vor deutschen Studenten die Begriffe der "Gesinnungsethik" versus "Verantwortungsethik" (vgl. Max Weber, Politik als Beruf, 1919). Gesinnungsethiker unterscheiden sich von Verantwortungsethikern nicht in den Werten, denen sie sich verpflichtet fühlen. Der Gesinnungsethiker verfügt nicht (oder will nicht verfügen) über die Fähigkeit, die Möglichkeiten seines Handelns und deren Folgen abzuwägen. Es fehlt ihm "...die geschulte Rücksichtslosigkeit des Blicks in die Realitäten des Lebens und die Fähigkeit sie zu ertragen und ihnen innerlich gewachsen zu sein" (M. Weber, 1919). Fast ein Jahrhundert später, schreibt David Foster Wallace zu diesem Typus: "...dass es so schrecklich verführerisch geworden ist ....sich auf engstirnige Arroganz zurückzuziehen, vorgestanzte Positionen, rigide Filter, die moralische Klarheit der Unreife....Die Alternative besteht darin, sich mit ungeheuren, hoch entropischen Mengen an Informationen, Zweideutigkeiten, Konflikten und Dingen im Fluss abzugeben; es heißt ununterbrochen neue Ausblicke auf Ungewissheiten und Selbsttäuschungen zu eröffnen" (David Foster Wallace, Entscheiderisierung 2007 - ein Sonderbericht).

Das einfache Weltbild und die radikale Klarheit der Gesinnungsethik üben auf jüngere Menschen eine große Anziehungskraft aus. Man denke etwa an die "Baader-Meinhof-Gruppe", Maos Rote Garden oder an fundamentalistisch infizierte Selbstmordattentäter - 50ig-jährige sind mir da noch nicht aufgefallen. Sie alle eint eine Haltung wie sie Kleists Michael Kohlhaas repräsentiert, der Gerechtigkeit einfordert "et pereat mundus" ("Fiat iustitia et pereat mundus") oder religiöse Fundamentalisten, die sagen: "Der Christ tut recht und stellt den Erfolg Gott anheim" (M. Weber, 2019, freie Übersetzung nach Luthers Genesis-Vorlesung).


Der Verantwortungsethiker wird nach den Folgen seines Handelns fragen, danach, ob die Mittel deren er sich bedient tauglich dazu sind, sein in der Verfolgung und Umsetzung von Wertvorstellungen formuliertes Ziel zu erreichen. Es zählt vor allem das Ergebnis seines Handelns. Das kann in der Sphäre politischen Handelns so weit gehen, dass die Erreichung guter Zwecke nicht selten mit der Anwendung sittlich bedenklicher Mittel verbunden ist.


Nun wird es in der Realität kaum den reinen Typus des Gesinnungs- oder des Verantwortungsethikers geben. In jedem ernstzunehmenden Verantwortungsethiker lodert auch die Flamme der ihn antreibenden Gesinnung. Leider allzu oft findet sich allerdings nur ein kaum mehr sichtbares, zitterndes Flämmchen, dem es droht, durch den rauen Wind der realen Welt jederzeit ausgeblasen werden zu können. Es geht also um die angemessene, auf die jeweilige konkrete Situation abgestimmte, rechte Balance zwischen beiden extremen Haltungen.


Im Idealfall sucht man das Gleichgewicht zwischen Gesinnungs- und Verantwortungsethik in sich selbst herzustellen. Das ist ein mühsamer Prozess, der im Abgleich an der Realität ständiger , manchmal auch schmerzhafter Nachjustierung bedarf, muss man sich doch vielleicht von mancher Illusion über den Stellenwert unserer unverbrüchlichen "abendländischen Werte" verabschieden.

Ich unterstelle, dass jeder wache Zeitgenosse angesichts der immer wichtiger werdenden Migrationsthematik versucht, eine ausgewogene, alle Aspekte berücksichtigende Position zu finden und um die Herstellung dieser inneren Balance bemüht ist. Aber im Fall des Handelns als Gruppe, um  zum Beispiel Flüchtlinge materiell zu unterstützen oder wenn es darum geht in einer politischen Partei zu einer verbindlichen Parteilinie zu kommen,  funktioniert das zum Ersten etwas anders und zum Zweiten auch nur dann, wenn sich jeder Handelnde dieser Spannung zwischen den beiden Polen der Gesinnungs- und der Verantwortungsethik bewusst ist; und Drittens, sich jederzeit um diesen Ausgleich bemüht. Man sieht, dass das in der Gruppe recht kompliziert werden kann. Je homogener die Gruppe ist, desto eher kann das gelingen. Und natürlich spielt auch die Größe der Gemeinschaft eine bedeutende Rolle.


Wenn die jeweilige Gruppe nicht darin geübt ist Wertekonflikte offen zu reflektieren, kann es sehr schnell zur mehr oder weniger deutlich verbalisierten Polarisierung und Parteibildung in der Gruppe kommen. Einzelne nehmen vielleicht im ersten Ansturm humanitär-solidarischer Emotionen einseitig gesinnungsethische Positionen ein, dem Motto folgend: "Meine Gesinnung schreibt mir vor jetzt gleich zu handeln (ich bin der Gute, Helfende, Mitleidbewegte), was am Ende dabei herauskommt oder ob ich meine begrenzten Mittel am rechten Ort einsetze, will ich jetzt noch gar nicht so genau überlegen, Hauptsache ich helfe jetzt". Andere, welche eher dazu neigen vorerst mehr zu überprüfen, abzuwägen und mögliche Folgen des Handelns zu bedenken, werden von den emotional tief Bewegten kaum beachtet und ziehen sich zurück, weil sie den Überschwang auch in sich spüren und durch ihre Einwände oder Mahnungen nicht die positive Energie bremsen wollen; vielleicht aber auch, um sich nicht dem Vorwurf des kleinmütigen Utilitarismus auszusetzen. Und schließlich gibt es auch jene, die sich gerade in solchen Situationen um die rechte Balance mühen und schweigen, weil sie wissen, dass ihre Stimme von den "Bewegten" nicht gehört beziehungsweise missverstanden werden wird.

Polarisierungen dieser Art in der Gruppe ist nicht beizukommen mit Appellen an die gemeinsamen Werte oder Versuchen der Psychologisierung. Die Wurzeln des Konfliktes liegen im - weiß Gott! - schwierigen, manchmal auch unmöglich erscheinenden Ausgleich  zwischen den ethischen Forderungen der Gesinnung und jenen der tätigen, auf den Erfolg gerichteten Praxis. Es ist daher notwendig zu üben, sich der Widersprüche bewusst zu werden und in einem zweiten Schritt danach zu trachten diese auszugleichen, nicht nur auf der individuellen sondern auch auf der Gruppenebene. Dieser notwendige Ausgleich zwischen den antagonistischen Polen von Gesinnungs- versus Verantwortungsethik wird noch zusätzlich dadurch erschwert, dass die Inhalte von Wertvorstellungen nicht nur einem historischen Wandel unterworfen sind. Das wäre noch kein Problem, wenn sich diese Veränderungen kontinuierlich und synchron vollzögen, sodass Zeitgenossen gleiche Vorstellungen von Wertinhalten hätten. Da dies jedoch selten der Fall ist, meint in Auseinandersetzungen so mancher ganz anderes, wenn er bestimmte Werte anspricht als sein Gegenüber.


Die Inhalte von Wertvorstellungen im historischen Wandel - die enge Welt der "französischen Aufklärung"

Die Vorläufer und Proponenten der europäischen Aufklärung, auf welche wir uns gerne berufen, waren sozialisiert im christlichen Kontext. Wenn allerdings Luther "von der Freiheit eines Christenmenschen" (in seiner "Genesis-Vorlesung") sprach, hatte er gewiss eine andere Freiheit im Sinn als jene seines ihn verehrenden Zeitgenossen,  des sozialrevolutionären Theologen Thomas Münster, der mit seinen Bauern in den Krieg gegen die herrschende ständische Ordnung zog; oder als Voltaire, ganz zu schweigen von Diderot oder dem Baron d'Holbach.

Voltaire und seine Gesinnungsgenossen wollten in erster Linie die doktrinär-autoritäre, alles bestimmende Macht der katholischen Kirche brechen. Es ging ihnen darum die Meinungsführerschaft zu erstreiten, nicht aber den Glauben abzuschaffen. Dies sollte Diderot und vor allem dem Baron d'Holbach vorbehalten bleiben. Auch Kant hatte nicht nur Edles in Sinn, galt es ihm doch, die Theologen von ihrem Platz an der Spitze der Universitäten zu vertreiben.


Die Welt dieser "Aufklärer" war sehr klein, männlich und rassistisch. Man reiste nicht weit, Nachrichten aus anderen Kontinenten waren spärlich, die Entfernungen nur mit großen Mühen überwindbar. Eine Gesellschaft in unserem Verständnis hatten sie nicht im Sinn. Die Welt, für welche die propagierten Werte Gültigkeit beanspruchten, war jene des Hofes, der Universitäten und der Eliten. Wenn eine Streitschrift eine Auflage von einigen hundert Exemplaren erreichte, so war das viel.

Die "Edlen Wilden" und Unzivilisierten Rousseaus waren gut aber dumm und ferne, Frauen und Kinder ohne Wert. Voltaire hätte sich angewidert abgewendet, hätte man von ihm erwartet, einen Afrikaner als Bruder und Gleichen zu betrachten; Thomas Jefferson, einer der Gründungsväter der Vereinigten Staaten, bekennender Aufklärer und Verfasser der Unabhängigkeitserklärung hatte hunderte Sklaven.


Je größer die "Werte-Gemeinschaft", desto dünner die Essenz ihrer Werte

Die Welt der nachfolgenden Generationen wurde rasch größer. Das erleichterte Reisen, neue, schnelle Kommunikationsmittel und das rasante Wachstum der human- und naturwissenschaftlichen Erkenntnisse veränderten die Perspektiven. Nicht nur Wirtschaft und das Menschheitswissen wurden globusumspannend, auch der Wertekosmos der Aufklärer wurde globalisiert.

Waren im 18. Jahrhundert die Forderungen nach Freiheit und Gleichheit Parolen im Kampf um die Vorherrschaft in der sehr kleinen Welt der Eliten, wurden also ganz konkrete Machtgefüge ins Visier gerückt, so sollte sich das bald ändern. Die Inhalte der Wertvorstellungen richteten sich zusehends auf das Allgemeine, um dann schließlich weltumspannend gedacht zu werden. Heute machen uns in Echtzeit frei Haus gelieferte Bilder von Natur- und Menschheitskatastrophen überdeutlich, wie sehr die Menschheit in ihrer existentiellen Kreatürlichkeit zu einer weltumspannenden Schicksalsgemeinschaft zusammengewachsen ist. Brüderliche Verbundenheit bekommt hier einen tatsächlich existentiellen Hintersinn. Wenn Friedrich Schiller in der ersten Strophe seiner "Ode an die Freude", wenige Jahre vor dem Gewaltausbruch der französischen Revolution, emphatisch forderte "... Bettler werden Fürstenbrüder...", so hatte er durchaus Sozialrevolutionäres im Sinn. Allerdings keineswegs in gleicher Weise wie - zwei Jahrhunderte früher - die Freiheit fordernden Bauern des schon an anderer Stelle erwähnten Thomas Müntzer, die in den Krieg ziehend sangen: "... und willst du nicht mein Bruder sein, so schlag' ich die den Schädel ein". Nur wenige Jahre später, wohl unter dem Eindruck der einlangenden Nachrichten über den "jakobinischen Terror", schwächte er diese radikale Vision der Aufhebung aller Klassenschranken ins allgemein Unverbindliche, Verschwommene ab.

Im gleichen Ausmaß wie die Größe der Gemeinschaft zunimmt, für welche diese Werte gelten sollen, verdünnt sich die Essenz der Werte in der gelebten Praxis. Umfasste diese Gemeinschaft vorerst einmal nur die Eliten, so erweiterte sich der Kreis bald auf alle Bürger der Nation, ja die gesamte, jetzt brüderlich-schwesterlich vereint sein sollende Menschheit.  Frauen und Kinder wurde allerdings erst mit beträchtlicher Verspätung in den Kreis jener aufgenommen, für die der Schutz durch Menschenrechte gelten sollte. Am Ende und konsequenterweise galt es - und in dieser Entwicklung stecken wir mitten drinnen - den Schutz auf alles Lebendige, also die gesamte Biosphäre auszudehnen. Wenn dann der ehemalige Vorsitzende der deklariert neoliberalen Partei der "Neos" vor laufender Fernsehkamera, in keineswegs parodistisch gemeinter Absicht, seinen "Bruder Baum" zärtlich umarmt, wird die Verflüchtigung der inhaltlichen Essenz in der allumfassenden Verallgemeinerung von Wertvorstellungen überdeutlich.


So verkommen anfänglich klar umrissene, auf die  Praxis zielgerichtete Wertvorstellungen, zu unverbindlichen Phrasen und verlieren ihre Tauglichkeit als Handlungsanleitungen. Es macht eben einen großen Unterschied, auf welcher Ebene der Beziehungen ethische Normen wirken sollen. Ob auf der Ebene des "Ich", des "Du", der Familie, des Staates, des Staatenbundes und der Welt oder gar der gesamten Biosphäre. Was in der persönlichen Begegnung mit dem Leid des "Dus" wirksam wird und unsere Empathie mobilisiert, verdünnt sich mit zunehmender - durchaus wörtlich gemeinter - Distanz. Die "Massenseele" kann zwar kurzfristig durch medial gesteuerte Kampagnen in empathische Schwingungen versetzt werden; wie sich zeigt, hat es sich jedoch recht bald ausgeschwungen, wenn nicht für ständigen Nachschub an mobilisierenden Bildern gesorgt wird. Aber auch dann erlischt allmählich unter dem permanent überfordernden Ansturm des Schreckens - desensibilisiert - das Feuer emphatischer Zuwendung. Im Zweifelsfall siegt eben immer die Phylogenese über die Ontogenese!


Die unverzichtbare Rolle der Medien für die Entwicklung der Demokratie

Auf der gesellschaftlichen Ebene erfolgt heute die Entfaltung der öffentlichen Wertedebatte in den Tageszeitungen und Wochenzeitschriften, im Radio, Fernsehen und diversen Blogs im Internet. Hier können die notwendigen Auseinandersetzungen durch die Zwischenschaltung des vermittelnden Mediums in der Regel emotional entschärfter, zivilisierter geführt werden. Über einen längeren Zeitraum beobachtet, lässt sich sehr gut beobachten wie scheinbar im Meinungsspektrum einander entgegengesetzte Positionen sich allmählich, mit Fortgang der Auseinandersetzungen, tendenziell einer fiktiven Mitte annähern. Der sich entwickelnde Mainstream veröffentlichter Meinung, der dann in der Folge auch auf die Opinionleader und realen Politiken zurück wirkt, sucht und findet den Ausgleich zwischen gesinnungs- und verantwortungsethischen Positionen in diesen öffentlich geführten Debatten. Für diesen öffentlichen und veröffentlichten Meinungsbildungsprozess, der die politisch Handelnden kommentierend, anregend und kritisierend begleitet, sind freie Medien unverzichtbar, welche unterschiedlichen Positionen Raum zur Darstellung einräumen.


Eine eigene, ganz andere Rolle haben die verschiedenen Internetforen in der Entfaltung der öffentlichen Debatte. Unter dem Schutz der Anonymität werden hier emotionale Kräfte deutlich sichtbar, welche in den öffentlichen medialen Diskussionen verdeckt bleiben. In den Ausdrucksformen von Angst, Feindseligkeit, Wut und Neid tritt dort ungehemmt "Das sogenannte Böse" zutage. Wer versucht diese Stimmen abzuwerten als solche einer kleinen Minderheit sozial und menschlich Depravierter verkennt, dass hier für die demokratische Weiterentwicklung unserer Gesellschaft Relevantes zum Ausdruck kommt. Es genügt nicht, wenn nur die intellektuellen und sozialen Eliten gepflegte Debatten führen und damit den Mainstream öffentlicher Meinung weiter entwickeln. Wenn dieser Prozess nicht alle Gesellschaftsschichten einschließt - und vor allem den tiefer liegenden, emotional-existentiellen Untergrund - wird das Ergebnis bloß veröffentlichte Meinung bleiben. Die emotionalen Kräfte wirken jedoch unter dem Deckel dieses öffentlichen Verschweigens weiter, um dann, möglicherweise an anderer Stelle, mit überraschender Heftigkeit unvermutet aufzutauchen. Erdrutschsiege extremer politischer Gruppierungen, Eruptionen von Hass und Gewalt an öffentlichen Orten und in Internetforen finden zum großen Teil in dieser mangelhaft entwickelten, für die Demokratie so wesentlichen Kultur der Debatte, ihre tiefere Begründung.

Unsere junge Demokratie hat für den politischen Prozess noch keine verlässlichen Routinen entwickelt. Jahrzehnte der "Sozialpartnerschaft" haben zu wirtschaftlichem Aufstieg und einem für viele andere Länder vorbildlichen Sozialstaat geführt. Die beim Aushandeln der Interessensgegensätze, dem Wettstreit der Ideen und der Wertediskussionen unvermeidbaren, auch heftigen Auseinandersetzungen der um Kompromisse ringenden politischen Funktionäre, waren für die Öffentlichkeit verborgen geblieben hinter geschlossenen Sitzungszimmertüren. Sicht- und hörbar wurden nur die Propaganda und Parolen der politischen Parteien. Damit blieb aber auch der mühsame, eigentliche politische Prozess, der Wettstreit der Argumente, unsichtbar. Von diesem meinte Max Weber, es handle sich dabei um "... ein starkes langsames Bohren von harten Brettern mit Leidenschaft und Augenmaß zugleich." (Max Weber, "Geistige Arbeit als Beruf", 1919). Auch müssen die politisch Denkenden und Handelnden "... sich wappnen mit jener Festigkeit des Herzens, die auch dem Scheitern aller Hoffnungen gewachsen ist, sonst werden sie nicht imstande sein, auch nur durchzusetzen, was heute möglich ist" (ebd.). Hier beschreibt er treffend die notwendige Fähigkeit des Demokraten, die strukturell unvermeidbaren Mängel des Kompromisses zu ertragen, dessen charakteristische Qualität ja gerade darin liegt, keine der streitenden Parteien zufrieden stellen zu können und die Mühen dieses politischen Prozesses.


Unter dem Ansturm des marktfundamentalistischen (neoliberalen) Denkens, welches bald alle gesellschaftlichen Bereiche infiltriert hatte, erodierten die eingeübten Usancen und Rituale der mühsamen, aber erfolgreichen sozialpartnerschaftlicher Zusammenarbeit. Was jetzt öffentlich sichtbar wurde - nämlich der kraftraubende politische Prozess - traf auf ein nicht darauf vorbereitetes Publikum, das Wahlvolk. "Die können ja nur mehr streiten und bringen nichts weiter, überall herrscht Stillstand!" las man in den Tageszeitungen, hörte man an den Stammtischen; Kompromisse wurden denunziert als "faule" und bloß durch "Packelei" erreicht. Was für ein fundamentales Missverständnis, wurde doch hier nur Webers mühsam, unbefriedigendes "...langsame Bohren von harten Brettern..." sichtbar; eben die Schwerarbeit von Politikern in einem demokratischen Setting, beim Ringen um den Kompromiss, im Kampf zur Umsetzung ihrer unterschiedlichen Wertvorstellungen in die gesellschaftliche Praxis.

Wen wundert's, dass unter solchen Voraussetzungen Populisten Zulauf finden und Politiker reüssieren, die versprechen den Streit zu beenden und zügig  ihre Wahlversprechen umzusetzen. Wer bohrt schon gerne lange "harte Bretter" beziehungsweise wer schaut schon gerne dabei zu?


Über einen langen - allzu langen - Zeitraum haben viele Journalisten unreflektiert und unkritisch diese Rhetorik übernommen und damit verstärkt. Das hat sich allerdings in den letzten Jahren, parallel mit den zunehmenden sozialen Konflikten, zumindest in den Leitmedien wesentlich zum Besseren verändert. Zunehmend werden identifizierte Problemfelder - zumindest in den sogenannten Qualitätszeitungen -  artikuliert und dazu die, je nach Werthaltung, unterschiedlichen politischen Positionen mit ihren Argumenten einander unkommentiert gegenübergestellt. So wird der Leser in die Debatte einbezogen und in die Lage versetzt eine differenziertere, auch gegnerische Positionen einbeziehende Haltung zu erarbeiten, Thesen und Antithesen abzuwiegen und zu synthetisieren. Mit anderen Worten, den ureigentlich demokratischen Prozess des Erstreitens von Kompromissen in sich selbst zu vollziehen. Mit dieser elementaren Erfahrung werden auch Verständnis und Wertschätzung für die Arbeit unserer Politiker wieder wachsen können, die unverzichtbar für den Bestand eines demokratischen Gemeinwesens sind.


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